Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Näher zu Dir…

„Sie sagte sich: Mit ihm schlafen, ja – aber nur keine Intimität!“
Karl Kraus, Fackel 202 2; Sprüche und Widersprüche

Als Teilnehmer des International Intensive Training (IIT) wurden uns Unmengen von Papier ausgehändigt. Wir mussten unseren Hausarzt angeben, Erkrankungen, wer im Todesfall (!) zu benachrichtigen ist, so erinnere ich den Fragebogen. Als wir darüber meuterten, für so viele Eventualitäten Angaben machen zu müssen, sagte eine der Trainerinnen, „das ist doch noch gar nichts! Für die IIT’s in Amerika musste man sogar unterschreiben, dass man sich der Gefahr bewusst ist. die von Empathie ausgeht.“ So wollte man sicher stellen, dass nicht eventuell ein Ehemann später die Veranstalter verklagt, falls die Partnerin zu einem anderen Teilnehmer tiefe Gefühle entwickelt.

Empathie birgt einen Zauber, der sich nicht auf ersten Blick erkennen lässt. Empathie schafft Intimität. Wikipedia unterscheidet hier zwischen körperlicher Intimität, emotionaler körperlicher Intimität und sexueller Intimität, und eine kleine Umfrage von mir in den vergangenen drei Tagen hat gezeigt, dass Intimität eine eigene Qualität hat, die tiefer geht als Nähe, und weiter gefasst ist als Sexualität.
Wenn ich ein Bedürfnis nach Intimität habe, geht das oft zusammen mit den Bedürfnissen nach Verbindung und Gesehen werden, mit Respekt, Sicherheit, Authentizität und Vertrauen und nicht so sehr mit Sexualität und Lusterfüllung. Wobei es ein Freund auf den Punkt brachte:
Ich kann mich an genau ein Mal erinnern, als ich Sex ohne Intimität hatte und das war für mich im wahrsten Sinne des Wortes „unbefriedigend“ . Und eine befreundete Sexualberaterin schrieb mir auf meine Anfrage: „Sex ist auch ohne Intimität möglich, da, wo ich innerlich nicht wirklich dabei bin, mich nicht wirklich öffne…“
Die Gebrauchsanleitung für eine erfüllte Beziehung könnte also lauten: Empathie erzeugt Intimität und Intimität ist die Voraussetzung für eine beglückende Sexualität. Damit kann ich Empathie und Intimität als Strategien für eine erfüllte Sexualiät betrachten. Der Vorteil ist: man kann beides leben und genießen, auch wenn kein Sexualpartner vorhanden ist. Denn es wird sicher jemanden geben, der bereit ist, Empathie zu geben.

Heute werde ich mich an der Nähe und Intimität freuen, die durch Empathie entsteht.

Freunde

„Über Schiedsrichter diskutiere ich nicht mehr. Die sind mittlerweile alle meine Freunde.“ – Matthias Sammer, als Trainer von Borussia Dortmund, FOCUS online, Das große Fußball Special 2002/03

Solange ich mich erinnern kann, habe ich immer Freunde gehabt, und beste Freundinnen. Die letzte Freundschaft dieser Art zerbrach 2002, als meine Freundin aus Schultagen etwas tat, was ich nicht ertragen konnte. Ich habe mich nie wieder bei ihr gemeldet, obwohl sie nur 20 Kilometer entfernt wohnt.
Andere Freunde kamen und gingen. Einer ist sogar schon tot. Doch in den vergangenen Jahren hat sich bei meinen Freundschaften etwas verändert.
Ich erlebe heute in Freundschaften weniger Verschmelzung und mehr Respekt. Weniger Co-Abhängigkeit, aber echte Unterstützung. Weniger Sympathie, aber mehr Empathie. Allein die Unterstützung, die ich in den vergangenen drei Wochen erlebt habe, macht mich staunen, und ich spüre tiefe Dankbarkeit und Verbundenheit. Gestern zum Beispiel habe ich eine Freundin um ein Telefonat gebeten. Ich wusste, dass sie zur Zeit sehr eingespannt ist und viele eigene Projekte bei ihr brennen. Und ich war bereit, ein Nein zu hören. Es gab Plan B und Plan C. Wenn diese Freundin nicht hätte reden können, hätte es andere gegeben. Und in dieser Freiwilligkeit war es ein wunderbares Geschenk, mit ihr reden zu können.
Heute hat mich ein Freund unterstützt. Ich war völlig ratlos in einer Angelegenheit, und er hat etwas für mich getan, was ich selbst zur Zeit nicht hätte tun können. Dabei fiel auch für mich eine ordentliche Scheibe Klarheit ab. Ich war so erleichtert und berührt, da saßen die Tränen ganz locker vor Dankbarkeit und Wertschätzung.
Am vergangenen Wochenende haben zwei Freunde mir mit der Seminarvorbereitung geholfen, heute gab es dazu sogar einen Nachschlag.
Ich merke, wie ich es gerade in schwierigen Zeiten genieße, mich an andere Menschen wenden zu können, die mich mit tragen. Früher hätte ich mich nicht zugemutet, sondern geglaubt, stark sein zu müssen.
Was hat sich verändert in den letzten Jahren?
Ich verbringe mehr Zeit damit herauszufinden, was ich brauche. Und dann überprüfe ich. wie ich bekommen kann, was ich brauche. Ich sage öfter nein als früher. Gestern fragte mich beispielsweise eine Freundin, ob ich ihr zum Gefallen an einer Marktforschungsstudie teilnehmen würde, und ich konnte nein sagen. Eine andere Freundin wünscht sich mehr Kontakt als ich geben kann. Ich halte es aus, in bestimmten Momenten zu sagen: Ich habe 15 Minuten von Herzen für Dich, wenn Du sie magst, nimm sie. Aber dann habe ich etwas zu erledigen, was mir wichtig ist.
Noch vor wenigen Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass ich meinen Angelegenheiten eine höhere Priorität eingeräumt hätte als anderen Leuten. Heute habe ich begriffen, dass es in erster Linie meine Sache ist, mich um meine Angelegenheiten zu kümmern.
Ich finde heraus, was ich brauche. Und ich wage zu fragen, ob ich Unterstützung haben kann. Und ich werte mich nicht mehr ab, wenn die Unterstützung von einer ganz bestimmten Person in diesem Moment gerade nicht zur Verfügung steht. Dann suche ich halt nach jemand anderem, der Zeit für ein Telefonat, einen Tipp für mein Seminar oder Ahnung von HTML hat. Ich bin freier, und doch spüre ich eine starke Verbundenheit mit den Menschen, die ich heute fragen kann: Hilfst du mir?

Heute will ich den Tag in dem Bewusstsein leben, dass es Unterstützung und Hilfe für mich gibt. Ich bin bereit, meine Sinne dafür zu öffnen, diese Menschen zu finden und in mein Leben einzuladen. Im Rahmen meiner Möglichkeiten bin ich für andere da.

Neue Ansage!

„Die Gewalt besitzt nicht halb so viel Macht wie die Milde.“
Samuel Smiles, Charakter

Vor ein paar Wochen gelang mir etwas nicht so, wie ich es gern gehabt hätte. Daraufhin gab mir mein Freund Gabriel einen Rat, den er von seiner Mutter übernommen hatte: Sei milde mit dir! Ich halte es für eine gute Idee, mir den Satz auf die Stirn zu tätowieren, denn nicht nur ich, sondern auch viele meiner Mitmenschen könnten eine Portion Milde mit Sicherheit gut gebrauchen.

Eine junge Schreibfreundin interpretierte eine Information von mir heute als Kritik. „Du hast Recht, ich war voreilig“. Erstaunt rieb ich mir die Augen. Davon hatte ich gar nichts geschrieben. Beim Mittagessen hörte ich mich zu einem Kollegen sagen, vielleicht ist das Gerät dafür besonders anfällig, und dachte hinterher, das ist doch bestimmt auch schon wieder ein Wortschätzchen wert! Zwei Mal hatte ich heute in beruflichem Zusammenhang mit Perfektionismus zu tun: Das ist alles andere als perfekt! Ok, Perfektionismus habe ich für mich selbst als den sichersten Weg ins Unglücklichsein entdeckt. Und immer schön die Latte hoch hängen!
Der Abschied vom Perfektionismus passt gut zu dem Entschluss, milde mit mir zu sein.
Ich habe nicht alles geschafft, was ich mir heute vorgenommen habe? Sei milde mit dir! Meine Waage zeigt mehr an als ich gutheißen kann? Sei milde mit dir! Dein Kontostand sinkt bedrohlich und es ist noch so viel Monat übrig? Sei milde mit Dir!
Milde sein bedeutet nicht, sich um die Verantwortung für das eigene Handeln zu drücken. Milde sein bedeutet, dass ich mich für das Verhalten nicht noch zusätzlich wolfe und verurteile, das ich ohnehin schon als nicht förderlich erkannt habe. Ich habe ja bereits begriffen, dass Übergewicht mein Wohlbefinden beeinträchtigt, unerledigter Papierkram eine bedrückende Bugwelle erzeugt und aufgeschobene Hausarbeit sich eben nicht von allein erledigt. Muss ich mir dafür noch eine Rüge erteilen, mich als fett, faul, unfähig oder nachlässig beschimpfen? Die Pflicht zur Selbstbeschimpfung ist offiziell aufgehoben. Die neue Ansage lautet:
Sei milde mit Dir!

Heute will ich darauf achten, wie ich mit mir selbst rede. Ist mein Ton harsch und unfreundlich, will ich mich daran erinnern, milde mit mir zu sein.

Versprechungen

„Selbstverständlich hat jede Religion ihre Geschichte, die ihr gemäßen Versprechungen von Gott, dessen Propheten und deren weise Lehrer, die gesagt haben … Die Beweise der Wahrheit gehen immer vom Zentrum der eigenen Religion aus. Das Ergebnis ist ein befangenes Denken, in dem wir von Kindheit an zu denken und zu glauben erzogen wurden; immerhin lebten und leben Generationen in der Überzeugung, daß sie die »Wahrheit« haben.“
Erich von Däniken, Erinnerungen an die Zukunft. Ungelöste Rätsel der Vergangenheit. Düsseldorf und Wien: Econ-Verlag, 1968. S. 85

Warum ist es sinnvoll, Gewaltfreie Kommunikation zu erlernen? Anfangs dachte ich, es wäre schön, mich in Auseinandersetzungen so ausdrücken zu können, dass es den anderen nicht verletzt. Dieses Verhalten nennt man Co-Abhängigkeit. Als nächstes dachte ich, ich könnte den anderen besser verstehen, und besser auf ihn eingehen, wenn ich seine Gefühle und Bedürfnisse klarer erkennen könnte. Auch dieses Verhalten kann man mit der Diagnose Co-Abhängigkeit belegen, wenn der Betreffende sich nicht gleichzeitig auch selbst im Fokus hat, was ich sehr gern aus den Augen verliere. Denn Co-Abhängigkeit ist seit vielen Jahren ein wichtiges Thema für mich. Dann las ich eine Aussage von Marshall, GfK sei nichts für Weicheier. Oh ha! Und das mir, da ich mich doch so oft als ängstlich erlebte. Irgendwo schnappte ich dann die Aussage auf, in der GfK hätten alle Bedürfnisse von verschiedenen Leuten die gleiche Wertigkeit, den gleichen Rang. Wie, auch meine?!
Das war der Durchbruch. Meine Bedürfnisse sind ebenso wichtig wie deine, und ich will sie ebenso achten.
Im vorigen Jahr war ich dann beim internationalen Intensivtraining (IIT) bei Marshall in der Schweiz. Dort wollte eine Teilnehmerin die Inhalte des Seminars aufnehmen und neun Tage tobte der Kampf darum, ob das Bandgerät laufen dürfe oder nicht. Nach dem dritten Tag gab es einige Teilnehmer, die die Frau am liebsten in die nächste Schlucht geworfen hätten, und ich bekam eine Vorstellung davon, warum Cato der Ältere im römischen Senat nicht sonderlich beliebt war, denn über Jahre beendete er jede Rede mit dem Ausspruch: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.“ * (Original lat.: „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.“). Obwohl mir die Prozessarbeit unendlich auf den Senkel ging, habe ich jedes Mal gefeiert, wenn die Frau sich meldete und sagte, sie würde aber gern jetzt den Workshop aufnehmen. Sie kämpfte meinen Kampf! Sie sagte stellvertretend für mich: Meine Bedürfnisse sind wichtig! Ich setze mich für mich ein! Ich stehe auf für meine Interessen!
Dieses Jahr hatten wir wie bereits berichtet ein Baby mit im Workshop. Wieder prallten verschiedene Bedürfnisse aufeinander. Lernen, Wachstum, Leichtigkeit, Bindung (an das Kind) und so manches andere. Als das Thema am zweiten Tag öffentlich wurde, war ich erstaunt, für wie viele Menschen es schwierig war, das Baby mit im Raum zu haben (plus gelegentlich noch vier Jungs). Und trotzdem verdunstete irgendwie die Energie, die zuerst in die Richtung gegangen war, das Kind muss hier raus! Dann müssen sich eben die Eltern abwechseln in der Workshop-Teilnahme…
Meine Beobachtung ist, dass mehrere Menschen, die zu diesem Thema gesprochen haben, anschließend kein (großes) Problem mehr mit der Anwesenheit des Kindes hatten. Ich weiß aber auch von Menschen, die nicht in der Gruppe ihre Meinung gesagt haben, und für sie war es nicht leicht, die Anwesenheit des Babys hinzunehmen.
Eine Zeit lang hatte ich geglaubt, wenn man nur genug GfK machen würde, ließen sich alle Konflikte irgendwie beilegen. Das war die Vision, das Heilsversprechen, das ich aus Marshalls Worten destilliert hatte. Am praktischen Beispiel erlebe ich, dass es nicht immer klappt, auch wenn 65 GfKler im Saal sich nach Kräften darum bemühen. Aber ich weiß, dass meine Chancen, meine Bedürfnisse erfüllt zu sehen steigen, wenn ich bereit bin, sie offen zu machen und mich dafür einzusetzen.

Heute bin ich bereit, einem Bedürfnis Ausdruck zu geben und mich für seine Erfüllung einzusetzen.

NVC & Sex

„Auch denken heute viele, Viagra sei ein Allheilmittel. Wenn ein Mann mit einer Erektion vom Boden bis zur Decke nach Hause kommt, zuvor aber nie das Geschirr abgewaschen, immer ihren Geburtstag vergessen und sie nie zum Essen ausgeführt hat, dann wird diese Frau ihm schon sagen, wohin er sich seine Erektion stecken kann. Die zwischenmenschliche Beziehung muss stimmen, wenn der sexuelle Verkehr klappen soll.“

Ruth Westheimer, auf die Frage, ob sie eine Freundin von Viagra sei, Stern Nr. 25/2008 vom 12. Juni 2008, S. 154

Ist Sex ein Bedürfnis oder eine Strategie? Vermutlich haben Biologen bei diesem Thema ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Denn der Fortpflanzungstrieb gilt im allgemeinen als der stärkste in den meisten Lebewesen. Dabei gibt es nicht so viele Menschen, die ständig durch die Gegend laufen und sich fortpflanzen wollen. Aber es gibt Millionen von Menschen, die Sex haben wollen. Warum?
Sexualität ist eine Strategie, um Verbindung herzustellen. Sexualität kann benutzt werden, um Nähe zu spüren. Sexualität wird zur Entspannung konsumiert. Jemand, der als sexuell attraktiv eingeschätzt wird, erfährt auf diese Weise Wertschätzung. Beispiel: Pamela Anderson, amerikanischer Serienstar und Playboy-Ikone. Begeisterung, Leichtigkeit, Spaß, Zugehörigkeit – eine Fülle ichbezogener und sozialer Bedürfnisse können wir uns mit Sexualität erfüllen. Sex kann gegen Angst wirken, Sex füllt die (emotionale) Leere in unserem Inneren, Sex kann betäuben oder dämpfen. Ja, auch eine spirituelle Komponente ist zu finden. Zumindest wird es im Tantra so gelehrt und das Slow-Sex-Movement in den USA feiert diesen Aspekt der Sexualität.

Doch die Strategie Sex kann ihr Ziel komplett verfehlen, wenn widersprüchliche Bedürfnisse damit erfüllt werden sollen. Er wünscht sich Entspannung, sie Verbindung. Einer sehnt sich nach Nähe, der andere nach Leichtigkeit. Wenn ein Partner meint, Sexualität sei bereits Nähe, kann das beim anderen Partner ganz anders sein. Da entsteht Nähe vielleicht vorzugsweise bei einem Candlelight-Dinner oder einem Spaziergang Hand in Hand am Strand.

Wäre Sexualität im Sinne der GfK ein Bedürfnis wie Nahrung oder Schutz, gäbe es dazu vermutlich keine Alternative. Ist Sex eine Strategie, können sich neue Türen öffnen. denn dann finden wir 1000 Wege, die zugrunde liegenden Bedürfnisse zu erfüllen. Sex kann einer davon sein, ja sogar die absolute Lieblingsstrategie. Aber es ist nicht mehr die einzige, und mein Selbstwert oder meine Glückseligkeit werden nicht mehr davon abhängen, ob ich einen Sexualpartner habe oder keinen.

Heute spüre ich in mich hinein, welche wunderbaren Bedürfnisse ich mir am liebsten mit Sex erfülle. Ich erkenne die Option, diese Bedürfnisse auch auf andere Weise zu stillen.

Beziehungsproben

„Die Entwicklungschancen einer Beziehung sind um so größer, je mehr Chancen wir ihrer Entwicklung geben.“
Ernst Ferstl „einfach kompliziert einfach“, Wien-Klosterneuburg, EDITION VA BENE, Ausgabe 1995


Beziehungen können durch GfK eine neue Tiefe gewinnen. Doch der Weg dorthin ist durchaus nicht immer einfach oder gerade.
In einer Auseinandersetzung sagte der Mann, der Verzweiflung und Wut in sich aufsteigen fühlte, ich brauche jetzt mal meine Ruhe. Er verließ den Raum, um ein bisschen Abstand herzustellen. Doch seine Gefährtin folgte ihm. Du gehst jetzt nicht. Wir klären das jetzt! Schließlich fand sich der Mann am Ende einer Treppe wieder, eine Sackgasse. Und die Gefährtin hinter ihm, ein Gespräch einfordernd. Ich glaube, es braucht nicht viel Fantasie um zu ahnen, was sich als nächstes abspielte. Am Ende trug ein Mensch das Etikett „Gewalttäter“.

Labeling, das Abstempeln des Gegenübers als „gewalttätig“ oder „rücksichtslos“ macht eine friedliche Lösung von Konflikten schwierig. Als der Mann durch das Haus flüchtete, wollte er sich einige wunderbare Bedürfnisse erfüllen. Es ging ihm um Schutz für sich und seine Partnerin, um Ehrlichkeit, Authentizität, vielleicht auch um Klarheit und Autonomie.
Als die Frau ihm durch das ganze Haus folgte, ging es ihr um die Erfüllung von wundervollen Bedürfnissen. Sie suchte Verbindung, Zugehörigkeit, Anerkennung, gesehen und gehört werden. Da beide in ihren alten Mustern gefangen waren, gab es keinen Weg zueinander.

Vielleicht wäre es nicht zu Gewalt gekommen – und jemanden durchs ganze Haus zu verfolgen ist auch eine Form von Gewalt – wenn der Mann in der Lage gewesen wäre zu sagen: Ich fühle mich gerade völlig überwältigt und brauche unbedingt eine Stunde für mich. Ich gehe jetzt um den Block und komme wieder.

Vielleicht wäre Gewalt verhindert worden, wenn die Frau in der Lage gewesen wäre dem Mann zu sagen, ich bin verzweifelt und brauche Verbindung zu dir. Wann können wir dieses Gespräch fortsetzen und was brauchst du dazu?

Gelingt es uns, in schwierigen Situationen noch miteinander in Beziehung zu bleiben, sind die Chancen auf eine friedvolle Lösung unendlich größer als wenn wir mit dem Finger auf den anderen zeigen. Du bist mir nachgekommen, du bist weggelaufen. Du hast mich bedrängt, du hast mich geschlagen…

Was braucht es, damit wir diesen Balanceakt schaffen können? Zunächst einmal eine gute Verbindung zu uns selbst! Die erste Frage lautet: Was brauche ich? Und erst frühestens die zweite Frage kann lauten: Und was brauchst du?

Heute bin ich bereit in Konfliktsituationen nicht nach dem Schuldigen zu suchen, sondern mich zu fragen: Was brauche ich?

Alte Muster durchbrechen

„Das körperliche Herz sei das Muster des geistigen: verletzbar, empfindlich, rege und warm, aber ein derber, frei fortschlagender Muskel hinter dem Knochengitter, und seine zarten Nerven sind schwer zu finden.“ – Jean Paul, Levana

Wir sind es gewohnt, auf bestimmte Reize in bestimmter Weise zu reagieren. Glaube ich, ich würde provoziert, schlage ich vielleicht zu. Denke ich, mein Gegenüber habe etwas falsch gemacht, reagiere ich unter Umständen wütend oder empört. In aller Regel laufen diese Reaktionen unbewusst ab, sie funktionieren wie Schlüssel und Schloss, greifen nahtlos ineinander.

Je länger wir uns mit der Gewaltfreien Kommunikation beschäftigen, desto besser gelingt es uns, Auslöser und Reaktion voneinander zu trennen. Wir haben eine Chance, uns von unseren automatischen Reaktionsmustern zu trennen und neue Wege zu entdecken. Doch wir verlangen Übermenschliches, wenn wir von uns selbst oder anderen erwarten, dass allein die Kenntnis über diesen Vorgang uns ermöglicht, uns gleich beim nächsten Mal und für immer von unseren alten Mustern zu lösen.

Vielleicht muss es zunächst reichen, überhaupt nur ein Muster zu erkennen. Das kann Tage oder gar Wochen nach einem Vorfall geschehen. „Oh ja, da hätte ich GfK anwenden können…“ Vielleicht gelingt es uns mit der Zeit, diesen temporären Abstand zu verkürzen. Wir merken es jetzt schon nach einer Woche, nach zwei Tagen, schließlich nach zwei Stunden. Und irgendwann merken wir es in Echtzeit. Vielleicht gelingt es uns jetzt, das Muster zu verändern, weil wir mehr mit unseren Gefühlen verbunden sind. Doch die Lösung oder die Strategie, die wir in diesem Moment wählen, ist vielleicht auch nicht gerade zielführend. Sie ist anders und für den Moment die beste Strategie, die wir haben. Und doch erreichen wir nicht das, was wir uns wünschen. Es braucht Zeit, alte Muster zu durchbrechen und neue zu finden, die nicht nur unsere, sondern auch die Bedürfnisse unseres Gegenübers mit einbeziehen. Wir sind auf dem Weg. Und wie Marshall sagt: „Die ersten 30 Jahre sind die schwersten.“

Heute will ich anerkennen, dass ich alte Muster wahrnehme. Ich erlaube mir, sie auf ihren Nutzen zu untersuchen und neue Strategien auszuprobieren.

Feier-Tage

„Pferde haben keine Feiertage. Sie »legen nie die Hufe hoch«. Sie wollen täglich gepflegt und trainiert werden.“
Meredith Michaels-Beerbaum, Alverde, Ausgabe Juli 2008, S. 8

Ziemlich verstreut in Deutschland habe ich Freunde, die mir wirklich viel bedeuten. Bei Saarbrücken nur eben über die französische Grenze, in München, Hamburg, Oldenburg, Heidelberg, auf Föhr, auf Fehmarn, Bremen, Braunschweig, Kassel, Berlin… (ich kann nicht alle Orte aufzähen!). Wir schaffen es mal besser und mal weniger intensiv, Kontakt zu halten. Eine gute Gelegenheit mich zu wolfen ist, wenn ich mitbekomme, dass einer der Freunde Geburtstag hatte und ich nicht gratuliert habe.
Was würde ich gern mit einer Gratulation ausdrücken?
Lieber XY,
heute ist ein besonderer Tag für uns beide, denn ohne Deinen Geburtstag gäbe es dich logischerweise nicht, und ich könnte mich nicht an unserer wunderbaren und bereichernden Freundschaft erfreuen. Aus diesem Grund bin ich heute in Gedanken bei dir und hoffe, dass du einen wunderbaren Tag verbringst. Ich wünsche Dir, dass Dir andere liebe Menschen dir ihre Wertschätzung zeigen, dass dir deine Planungen schnell von der Hand gehen, dass du Freude und Leichtigkeit erlebst. Und ich wünsche mir, dass wir weiterhin so tief und von Herzen miteinander verbinden sein können!

Ja, so etwas würde ich sagen oder schreiben, wenn ich nur den Geburtstag parat hätte, wenn nur eine Gratulationskarte im Haus wäre, eine Briefmarke, fünf Minuten Zeit zum Luftholen, die neue Mail-Adresse oder Handynummer irgendwo gespeichert…

Wenn ich zu einem späteren Zeitpunkt realisiere, dass mir wieder ein Geburtstag durch die Lappen gegangen ist, kann ich mich verurteilen, weil ich keinen Glückwunsch losgeworden bin. Ich kann mein Gegenüber kritisieren, weil er oder sie mich nicht eingeladen hat. Und ich kann einfach zum Hörer greifen und sagen: Mensch, hattest du nicht dieser Tage Geburtstag? Wie war es? Sind nette Menschen gekommen? Hast du Wertschätzung erfahren, und Freude und Leichtigkeit?

Ich glaube, es kommt nicht auf den Feier-Tag an. Geburtstag, Muttertag oder Valentinstag sind nur hohle Anlässe für Rituale, wenn es nicht um das Wesentliche geht: Verbindung. Und dafür ist jeder tag ein Feier-Tag.

Heute will ich mir bewusst machen, dass ich zu jeder Zeit die Möglichkeit habe, zu meinen Freunden in Verbindung zu gehen.

Ein besseres Leben

„Wenn Hamlet plötzlich anfängt, Zeilen aus einem ganz anderen Drama zu sprechen, dann muß auch Ophelia ihren Text ändern, um den Ganzen einen Sinn zu geben, und die Vorstellung verläuft danach in ganz anderen Bahnen. Es könnte passieren, daß die beiden dann gemeinsam fortgehen, anstatt ständig um das Schloss herumzuschleichen. Das mag vielleicht ein schlechtes Stück sein, vermutlich ist es aber ein besseres Leben“
Was sagen Sie, nachdem Sie Guten Tag gesagt haben? Von Eric Berne, Fischer, Frankfurt am Mai 1983, ISBN 3-596-42192-7, Seite 53

Gestern Morgen bekam ich einen Anruf, an dem ich noch immer zu knabbern habe. Ein langjähriger Berufskollege war am Telefon. „Kennst du einen Paartherapeuten? Meine Frau und ich müssen so schnell wie möglich eine funktionierende Kommunikation aufbauen!“
Zum einen überrascht es mich, dass Menschen, von denen ich annehme, dass sie glücklich miteinander leben, anscheinend keine funktionierende Kommunikation haben. Ich habe eigentlich bei vielen Paaren, die äußerlich betrachtet friedlich miteinander leben, die Vermutung, sie hätten eine funktionierende Kommunikation. Das gilt besonders dann, wenn sie viel miteinander reden. Dabei weiß ich aus meinem eigenen Erleben, dass der Ausstoß von Worten keine Aussage übe die Qualität der Kommunikation zulässt.
Zum zweiten war ich sehr berührt, dass der Kollege mich anrief. Ich glaube, für viele von uns ist es noch immer mit Scham verbunden zuzugeben, dass etwas nicht funktioniert, dass wir nicht alles im Griff haben, dass wir Hilfe brauchen. Seine Stimme wirkte auf mich drängend, aber auch entschlossen. Als riefe jemand die Feuerwehr an: „Es brennt in der Goethestrasse!“ Ich hatte auch den Eindruck von Ohnmacht. Es muss etwas passieren, sofort!
Ein Freund fragte mich dieser Tage, „meinst du, meine Ehe hat noch eine Chance?“ Ich bin überzeugt, dass all unsere Beziehungen eine Chance haben, wenn es uns gelingt, eine funktionierende Kommunikation aufzubauen. Wenn Hamlet einen neuen Text lernt, wenn Ophelia es schafft, einfühlsam zuzuhören. Und zu teilen, was wirklich in ihr lebendig ist.

Heute will ich in all meinen Beziehungen darauf achten, ob ich wirklich Verbindung spüre – zu mir und zum anderen.

Mächtige Gefühle

„Die Stärke der Gefühle kommt nicht so sehr vom Verdienst des Gegenstandes, der sie erregt, als von der Größe der Seele, die sie empfindet.“ – Das grüne Heft
Théodore Simon Jouffroy (1796-1842)
französischer Philosoph

In letzter Zeit fällt mir auf, dass ich meine Gefühle intensiver wahrnehme. Vor einer Woche hatte ich ein richtiges Brausen in der Brust, und die Gefühle waren Schmerz, Ohnmacht und Einsamkeit. Die Bedürfnisse im Mangel waren Verbindung, Vertrauen und Nähe. Heute hatte ich eine Verabredung mit drei GfK’lern und das geplante Treffen ging gründlich in die Hose. Ich verbrachte eine Stunde wartend auf dem Kieler Hauptbahnhof in Bullenhitze, ich habe ein kleines Vermögen für (falsche) Fahrkarten ausgegeben, und letzten Endes war ich so abgenervt, dass ich auf das Treffen verzichtet habe und wieder nach Hause gefahren bin.
Trotzdem hatten diese mächtigen Gefühle eine neue Qualität. Ich konnte sie wahrnehmen, ganz tief spüren. Es waren Frustration, Ohnmacht, Verzweiflung, Trauer und eine Prise Wut. Und ich konnte sie ansehen wie in einer Gemäldegalerie. Oh, schau mal, Frustration! Und da, die Ohnmacht! Verzweiflung, da ist sie ja… Die Gefühle brausten in mir herum, und ich konnte mir dabei zuschauen und überlegen, welche Bedürfnisse im Mangel waren. Ich wurde nicht mehr von den Gefühlen getrieben wie eine Rakete, deren Hintern in Flammen steht.

Disidentifikation

Disidentifikation ist der Prozess einer systematischen Unterscheidung des Wahrnehmenden, des Beobachters vom Wahrgenommenem, dem Beobachteten. Beispielsweise gelangen wir von einem „ich bin wütend“, von einer Identifikation mit der Wut durch konsequentes Beobachten zu einem „ich beobachte, wie sich etwas wie Wut im Bauch anfühlt“. Dies führt eben zu einer Disidentifikation von der Wut, eine Identifikation mit dem gelassenen oder unberührbaren „Inneren Beobachter“ wird möglich. „Ich bin der, der beobachtet“.
Disidentifikation ist ein wesentlicher transformatorischer Wirkmechanismus der Achtsamkeitspraxis. Die Loslösung von Identifikationen, die Disidentifikation ist wesentlicher Teil jeder Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere in transpersonale Bereiche.
Geprägt wurde dieser Begriff ursprünglich von R. Assagioli im Rahmen der von ihm entwickelten „Psychosynthese“.

Also: Meine Gefühle sind nur Gefühle. Sie weisen auf meine unerfüllten Bedürfnisse hin. Im konkreten Fall hatte ich das tiefe Bedürfnis nach Autonomie und nach Effektivität und Sinnhaftigkeit. Rumstehen und warten, dass jemand kommt, war in dem Moment weder effektiv noch sinnhaft für mich. Das Besondere an der Situation war jedoch, dass ich niemandem die Schuld geben musste, weder mir noch anderen. Ich konnte annehmen was ist. Ich konnte mich mit den guten Gründen für das zu spät kommen verbinden. Und ich konnte trotzdem eine Entscheidung treffen, die meiner Verantwortung mir gegenüber Rechnung trug.

Heute will ich mir vergegenwärtigen, dass Gefühle nur Gefühle sind. Ich habe die Wahl, wie ich mich von ihnen beeinflussen lassen will.

Hirnen

Daß wir die Übel, die wir haben, lieber
Ertragen als zu unbekannten fliehn.
So macht Bewußtsein Feige aus uns allen;
Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt;

Und Unternehmen, hochgezielt und wertvoll,
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
Verlieren so der Handlung Namen. – Still!
Die reizende Ophelia! – Nymphe, schließ
In dein Gebet all meine Sünden ein!

Aus: Hamlet, von William Shakespeare

Heute Morgen hatte ich ein wunderbares und bereicherndes Telefonat mit einer GfK-Freundin, die gerade sehr mit ihren inneren Stimmen ringt. Was ist richtig, was ist falsch? Wir hatten Begriffe wie herzlos oder im Stich gelassen am Wickel, haben Wölfe eingefangen und innere Richter übersetzt. Mir bereitet das eine tiefe Freude, auf diese Weise zu kommunizieren. Es bringt mich in Verbindung mit dem Leben und mit einer Höheren Macht, für die es kein Richtig und kein Falsch gibt. Gott sitzt nicht mit einer Excel-Tabelle bewaffnet auf einem Berg und notiert sich unsere Sünden. Und wenn er es nicht tut, brauchen wir es auch nicht zu tun, weder mit unseren eigenen noch mit denen anderer.

In dem Gespräch ist mir erneut eingefallen, wie viel Zeit unseres Lebens wir mit „Hirnen“ verbringen. Das Wort habe ich von einer Bekannten im Breisgau aufgeschnappt und ich finde es wunderbar! Hirnen ist die Zusammenfassung für all den Kram, den wir im Kopf haben, und der uns weder weiterbringt noch glücklich macht. Urteile gehören in die Kategorie Hirnen. Was wäre wenn… ist hirnen, die Interpretationsgefühle gehören in diese Tüte. Wenn es uns gelingt aufzuhören zu hirnen, Dinge wiederzukäuen, unseren Kopf damit zu verstopfen, was andere denken, warum wir nicht kriegen, was wir wollen oder brauchen, dann steht unserem Glück nichts im Weg. Das Bewusstsein macht uns feige, sagt Hamlet. Ich denke, hirnen raubt uns Kraft und Lebensfreude. Es reicht, einfach zu akzeptieren was gerade ist.

Heute will ich aufmerksam sein, wenn ich mich in endlosen Gedanken verstricke. Ich nutze meine Kraft dafür, meinem Leben die Richtung zu geben, die ich mir wünsche.

Bedürfnisse, die oben liegen

„Die schönste Harmonie entsteht durch Zusammenbringen der Gegensätze.“

Heraklit, Fragmente, B 8

Heute sprach ich mit einem Freund über seine Bedürfnisse. Wir fanden heraus, dass ihm Harmonie so wichtig war, dass andere Bedürfnisse dafür bei ihm in den Hintergrund traten. Autonomie zum Beispiel scheint ein Bedürfnis zu sein, dass der Harmonie im Wege steht. Wenn einer etwas unternimmt oder plant, was der andere nicht gutheißt, kann die schöne Harmonie in der Partnerschaft schnell am Ende sein.
Doch was geschieht, wenn wir wieder und wieder unsere Bedürfnisse nach Autonomie, Selbstausdruck, Authentizität, Ehrlichkeit und Echtheit unter dem Deckel halten, um die Harmonie nicht zu gefährden?

Wie bei einem Baumkuchen oder bei den Jahresringen einer dicken Eiche können wir meist nur die oberste Schicht unserer Bedürfnisse sehen. Vielleicht liegt unter unserem tiefen Bedürfnis nach Harmonie ja eigentlich das Bedürfnis nach Verbindung. Vielleicht geht es gar nicht um Harmonie, sondern um das Vertrauen, dass ich auch dann noch geliebt werde, wenn ich eine abweichende Meinung vertrete.Vielleicht fürchte ich, Nähe und Sexualität zu verlieren, wenn ich mich nicht an die Regeln halte. Vielleicht geht es mir um Leichtigkeit, weil ich einfach keine Lust habe, ein Thema wieder und wieder durchzukauen…
Es lohnt sich, einen Blick unter das zuoberst liegende Bedürfnis zu werfen. Denn die Bedürfnisse, die zugunsten eines anderen unterdrückt werden, sind ja deshalb nicht verschwunden. Vielleicht gärt es längst in uns, vielleicht rotten sich die Wölfe zusammen, vielleicht gibt es eines Tages gar keine Beziehung mehr, weil sie in Harmonie erstickt ist und nun nur noch leblos über dem Sofa hängt.
Wenn wir herausfinden, welche weiteren Bedürfnisse in uns lebendig sind, können wir einen Weg finden, dass alle erfüllt werden. Vielleicht nicht alle zur gleichen Zeit. Vielleicht müssen wir erst den Bedürfnissen Aufmerksamkeit schenken, die oben liegen. Doch danach ist es an der Zeit zu fragen:
was brauche ich jetzt, um wirklich glücklich zu sein?

Heute wil ich es wagen, all meine Bedürfnisse willkommen zu heißen.

Loslassen

The most exquisite paradox — as soon as you give it all up, you can have it all. As long as you want power, you can’t have it. The minute you don’t want power, you’ll have more than you ever dreamed possible.
Ram Dass
 

Immer wieder entdecke ich bei mir den Gedanken, wenn ich etwas nur schön GfK formuliere, dann wird meine dahinter liegende Bitte auch erfüllt. Marshall erzählt auf einer seiner CD’s von einer Mutter, die bei ihm einen Kurs besuchte und am zweiten Tag mit den Worten wieder kam: „Marshall, es funktioniert nicht!“ Er fragte nach, was sie meinte, und sie erzählte, sie sei abends nach Hause gekommen und habe ihren Sohn angesprochen, etwas Bestimmtes zu erledigen. Wenn ich sehe… fühle ich mich… weil mir … wichtig ist. Wärest du bereit, … zu tun?
Als der Sohn dazu nicht bereit war, wurde sie wütend und frustriert (und beschimpfte ihn).

GfK ist keine Zauberformel, um von anderen zu bekommen, was wir wollen. Im Gegenteil. Die Haltung, die wir mit der GfK verbinden, schenkt ja gerade uns und unserem Gegenüber die Freiheit, nach den eigenen Bedürfnissen zu handeln. Aber: Eines der stärksten menschlichen Bedürfnisse ist das Bedürfnis beizutragen. Wenn wir die Freiheit des andern genau so hoch schätzen wie unsere eigenen Wünsche, erhöhen wir die Chance, dass wir genau das kriegen, was wir uns wünschen.

Vor 14 Tagen hatte meine Mutter Geburtstag. Wir trafen uns zu einem gemütlichen Abendessen und ich hatte mein IPad mit, um ihnen die Fotos von der Hochzeit ihres Enkels zu zeigen (und weil ich so verliebt in die Flunder bin, dass ich ohne sie sowieso nicht aus dem Haus gehe). Bei der Anreise merkte ich, wie sehr ich mir wünschte, meine hochbetagten Eltern würden sich ein wenig für die digitale Technik öffnen. Es wäre so viel leichter, mit ihnen per Mail Kontakt zu halten. Im Zug gab ich mir Empathie für diese Wünsche nach Leichtigkeit, Verbindung, Beitragen, Autonomie (für meine Eltern, die aus gesundheitlichen Gründen kaum aus dem Haus kommen), Beteiligung, Vertrauen, Begeisterung, Spaß und gesehen und gehört werden.
Dann rief ich mir in Erinnerung, warum ich im Zug saß. Ich wollte mit meiner Mutter ihren Geburtstag feiern, und nicht etwa ihr meinen Willen aufzwingen.
Wir verbrachten einige schöne Stunden miteinander. Mein Vater spielte ein bisschen mit dem IPad, bewunderte die Fotos und staunte über einzelne kleine Programme. Meine Mutter erzählte, dass sie bis vor wenigen Monaten eine eifrige Nutzerin von Videotext war, aber es mit dem neuen Fernseher noch nicht ausprobiert hatte. Ich war überrascht es zu hören und berührt, als sie davon sprach, wie anstrengend manche Dinge zur Zeit für sie seien und wie schwierig, sich auf Neues einzustellen.

Im Zug habe ich mir gratuliert, meine Klappe gehalten zu haben. Ich hatte viel Neues über meine Eltern erfahren, wie es ihnen geht, was sie bewegt. Und ich war dankbar, dass wir eine echte Verbindung gefunden hatten.

Gestern rief mich mein Vater im Büro an. Wir wollen ein IPad! Wie sieht es aus, kannst Du uns eins besorgen?

Heute will ich mich daran erinnern, dass im Loslassen unseres eigenen Willens ein wunderbarer Zauber innewohnen kann. Ich gewinne eine neue Freiheit, indem ich meinem Gegenüber die Freiheit schenke, sich nach seinen Bedürfnissen zu entscheiden.

Beitragen ist angeboren

Caring is a reflex. Someone slips, your arm goes out. A car is in the ditch, you join the others and push. You live, you help.
(Sich kümmern/sorgen um ist ein Reflex. Jemand rutscht aus, dein Arm streckt sich aus. Ein Auto ist stecken geblieben, du schließt dich den anderen an und schiebst. Du lebst, du hilfst).
Ram Dass

Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung? Beitragen ist uns Menschen eingebaut. Wenn ich mich umsehe in meiner Welt, habe ich an manchen Tagen den Eindruck, dass einige Menschen in meiner Umgebung hart daran gearbeitet haben, sich diesen Reflex abzutrainieren. Als ich ein Schulkind war, wurde selbstverständlich erwartet, dass ich für Ältere im Bus aufstehe. Der Schönheitsfehler war, dass ich es nicht gemacht habe, um zum Wohl des älteren Menschen beizutragen. Ich tat es, um zu vermeiden, dass die Nachbarin beobachtet, dass ich sitzen bleibe, und es anschließend meiner Oma steckt. Und diese würde dann strafen, weil sie keine andere Alternative sah, mir beizubringen, was sie für gesellschaftlich erwünscht hielt. Aufstehen war richtig, sitzen bleiben war falsch. Falsches wurde bestraft…

In meiner Familie gab es einen Großonkel, den ich vielleicht ein Dutzend Mal im Verlauf von ein paar Jahren gesehen habe. Er starb bevor ich zehn Jahre alt war. Bei jeder Begegnung sollte ich diesen fremden alten Mann küssen, und zwischendurch wurde von mir erwartet, dass ich ihm schreibe. „Das gehört sich so, und du kriegst auch was dafür!“ Das Traurige an der Geschichte: auch hier ging es nicht wirklich um Verbindung, sondern um „bezahlte“ Dienstleistung. Den eigenen Bedürfnissen nach Autonomie, Respekt und Schutz folgen war falsch und wurde kritisiert, das widerwillige Küssen oder Schreiben wurde belohnt…

Gehorsam, Pflicht, Benehmen, Anstand – nach diesem Muster funktionieren wir bis heute. Ich sehe mich heute noch täglich mit diesen Anforderungen konfrontiert. Wer von uns Lernenden kennt schon wirklich seine eigenen Bedürfnisse und traut sich, danach zu leben?
Die Giraffensprache kann uns helfen, unser mitfühlendes Wesen neu zu entdecken. Die Stimme des Herzens, unsere mitfühlende Seele findet nur schwer Gehör. Und diese Stimme kann eben auch sagen: Ich möchte den fremden Mann nicht küssen. Und ich bin selber müde! Meine Bedürfnisse zählen ebenso wie deine, und deshalb bleibe ich im Bus sitzen. Oder wir können uns den Platz teilen…

Heute will ich daher versuchen, die Stimme meines Herzens zu hören und ihr zu folgen.

Annehmen was ist

„Bei Trübsal ist Gleichmut die beste Würze.“
Plautus, Das Schiffstau, 402 / Trachalio

Dieser Tage hatten zahlreiche Menschen in meinem Leben Geburtstag. Die eine fühlte sich zu schwach, um eine Feier auszurichten. Doch ohne ihr Zutun kamen Menschen zu Besuch und sie verbrachte, verteilt über mehrere Tage, einen anregenden und liebevollen Geburtstag.
Eine andere Person hatte sich entschlossen, zu einem Fest einzuladen und schwärmte im Nachhinein: Hättest du dabei sein können, du hättest dich rundum wohl gefühlt.
Eine dritte Person war in gedrückter Stimmung und voller Schmerz. Menschen, die ihm wichtig waren, würden nicht da sein, im Rückblick auf die vergangenen Jahre schien das Leben voller Mühsal und Verzweiflung.
Es lässt mich nicht kalt zu sehen, wie jemand, der mir nahe steht, so im Schmerz ist. Und heute Nacht gab Marshall mir eine Antwort, wie ich solche Situationen für mich einschätzen kann.
Ich habe es mir angewöhnt, zum Einschlafen Marshalls CD „Nonviolent communication“ zu starten. Irgendwann döse ich dann weg und es fühlt sich an, als lese mir ein lieber Mensch eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Gestern Nacht sprach Marshall zum Thema „Connecting empathetically“, so steht es auf dem CD-Label. Eigentlich handelt sein Exkurs davon, andere zu unterbrechen, wenn man nur ein Wort mehr gehört hat als man hören mag. Und er beschreibt, wie man „Auntie“ unterbrechen kann, die 20 Jahre nach dem Scheitern ihrer Ehe noch immer über den bösen Ex-Mann klagt: Ist dein Bedürfnis nach Fairness nicht erfüllt?
Manchmal verstellt uns der Schmerz aus der Vergangenheit den Blick auf das Heute. Unser Leben scheint trüb, es ist, als trügen wir wie beim Zauberer OZ eine Brille, die unsere Sicht auf die Dinge – diesmal jedoch in einem gleichmäßigen Grau – erscheinen lässt.
Wir können diese Brille abnehmen, indem wir annehmen, was ist.
Wenn wir bereit sind zu erkennen, welche unerfüllten Bedürfnisse aus der Vergangenheit uns noch heute festhalten, können wir dafür Sorge tragen, dass unsere Bedürfnisse im Hier und Jetzt erfüllt werden. Der amerikanische Lebensberater und Autor Dale Carnegie („Sorge dich nicht, lebe!“) schrieb dazu: Heul nicht über verschüttete Milch!
Die Worte klingen harsch, und doch können sie einen Segen für uns beinhalten. Die Milch ist fort, im Ausguss, nicht mehr zu verwenden. Doch wir können es nicht ändern. Der einzige Tag, den wir gestalten können, ist der heutige. Wir können heute die Empathie finden, die wir brauchen, wir können heute tatkräftig Dinge verändern, die uns stören, wir können heute feiern, trauern, bedauern, Wiedergutmachung leisten, Dinge anders machen. Die Vergangenheit ist vorbei, wir können sie nicht ändern. Den heutigen Tag aber können wir so begehen, dass wir uns gern an ihn erinnern.

Heute ist die einzige Zeit die zählt.

Copyright © 2025 by: Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren! • Template by: BlogPimp Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA.