Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Die Bitte um Einfühlung

„Jeder wahre Lehrer, jeder Arzt, jeder Therapeut, aber auch jeder Seelsorger kennt den eigentümlichen Sprung, der sich in seiner Beziehung zu dem ihm aufgegebenen Menschen vollzieht in dem Augenblick, in dem er nicht anders kann, als sich dem anderen gegenüber selbst zu öffnen und nun durch sein Amtskleid hindurch als der ganze Mensch hervortritt und so dem anderen als er selbst begegnet. Bei allen Gefahren, die damit verbunden sind – er weiß und spürt es: Erst jetzt erreicht er den anderen wirklich von Person zu Person.“ – Karlfried Graf Dürckheim, Vom doppelten Ursprung des Menschen

Vor einiger Zeit plagten mich arge Zahnschmerzen. Es stellte sich heraus, dass ein Backenzahn gezogen werden musste. Ich zitterte mich morgens in die Praxis, fürchtete die Schmerzen und die Geräusche beim Herausreißen des Zahns.

Meinen Zahnarzt kenne ich nun schon 27 Jahre und ich mag ihn sehr gern. An diesem Morgen kam er ins Behandlungszimmer und erzählte einen seiner üblichen Kalauer. Mir war nicht zum Scherzen zumute und ich antwortete: „Ich habe Angst!“
Irritiert entgegnete mein Zahnarzt: „Aber ich mach das doch nicht zum ersten Mal… “

Ich war gleichzeitig ärgerlich und musste trotzdem lachen. Wolfsohren innen, Wolfsohren außen… Es schien ganz so, als habe mein Zahnarzt meine Angst als Misstrauensvotum aufgefasst. „Sie können das nicht!“ Dabei hatte ich mit meiner Äußerung auf eine ganz andere Reaktion gehofft. Ich hatte mir Einfühlung gewünscht.

Heute wird mir noch einmal ganz deutlich, dass es leider meist nicht so einfach funktioniert. Von meiner Seite aus gab es keine klare Bitte, die mein Zahnarzt hätte erfüllen können. Wie hätte diese Bitte aussehen können? Vielleicht dass ich mich rückversichere, ob unsere alte Vereinbarung noch gilt, dass er sofort aufhört, wenn ich ein Handzeichen gebe. Oder dass er mir noch einmal in Ruhe erklärt, was er tun wird. Ich bin aufgefordert zu überlegen, wie er zu meiner Beruhigung oder Entlastung beitragen kann. Woher soll er wissen, was ich in diesem Moment brauche?

Trotzdem habe ich mir von vielen Ärzten bisher vergebens mehr Einfühlung erhofft. Ob beim Mammografie-Screening oder beim Internisten: Ich möchte gesehen werden, Ernst genommen, ich wünsche mir Klarheit, Verständnis, Verbindung, Ehrlichkeit und Beteiligung. Ich bekomme bestimmt leichter, was ich mir wünsche, wenn ich bereit bin, konkrete Bitten zu formulieren.

Heute will ich mir bewusst werden, dass andere Menschen nur selten meine Gedanken lesen können und es daher hilfreich ist, wenn ich klare Bitten formuliere.

Vom Mangel zum Überfluss

„Das Misstrauen gegen den Geist ist Misstrauen gegen den Menschen selbst – ist Mangel an Selbstvertrauen.“ – Heinrich Mann, Geist und Tat (entst. 1910) Frankfurt am Main 1981, S. 13

Es gibt einen Menschen, der meinem Herzen sehr nahe steht. Doch wenn ich diesem Menschen zuhöre und ihm eigentlich Einfühlung geben möchte, komme ich immer wieder an meine Grenzen.

Nennen wir ihn Eberhard. Er hat einen netten Freundeskreis, einen interessanten Job mit wohlgesonnenen Arbeitskollegen, er interessiert sich für Sportveranstaltungen und hat sich inzwischen einen Kreis von Menschen aufgebaut, die wie er Freude daran haben, zum Fußball oder Tennis zu gehen.

Eberhard wünscht sich von ganzem Herzen ein Gegenüber, jemand, mit dem er sein Leben teilen kann. Es gibt viele Gelegenheiten, bei denen Eberhard den Mangel betrauert. Ist er gerade intensiv beschäftigt und hätte so gern tatkräftige Unterstützung. Da ist niemand, der mein Leben teilt! sagte er dieser Tage.
Ich kann das schwer hören.
Mir ist bewusst, dass Eberhard sich Gemeinschaft, Wärme, Unterstützung, Nähe, Zärtlichkeit, Intimität, Nähe, Geborgenheit, Sicherheit, Beteiligung, Leichtigkeit und vielleicht noch manches andere wünscht. In all diesen Bedürfnissen erkenne auch ich mich wieder. Und trotzdem gelingt es mir nicht, ihm Empathie zu geben.
Ich selber habe viele Jahre im Mangel gelebt. Mein Glück war eine Schachtel Pralinen, die andere in der Hand hielten. Doch in den vergangenen vier Jahren hat sich dieser Mangel nach und nach verflüchtigt, wie Nebel, der morgens über den Wiesen liegt. Wenn die Sonne herauskommt, steigen die Schleier auf, Wärme und Licht sind für uns da.

Mein Gefühl des Mangels hat sich in ein Gefühl von Überfluss, Geborgenheit, Sicherheit und Wärme gewandelt. In mir ist heute häufig die Gewissheit lebendig, dass alles für mich bereit steht. Wer sich selbst verändert, ändert die Welt. Es gibt in dieser Welt nichts zu verbessern, aber sehr viel an sich selbst. las ich heute in einem Buch. Und ich möchte betrauern, dass es mir noch nicht gelingt, für andere einfach nur empathisch da zu sein, sondern dass ich immer noch missionarisch unterwegs bin, um sie zu überzeugen: Alles steht für DICH bereit.

Heute will ich achtsam mit mir selbst umgehen, wenn ich andere missionieren will. Was brauche ich, um für mein Gegenüber einfach nur da zu sein?

Komm und spiel mit meinem Schmerz…

„Ohne Mitleiden ist kein Mitfreuen.“ – Franz von Baader, Vierzig Sätze aus einer religiösen Erotik. In: Sämmtliche Werke. 4. Band. Hrsg. von Franz Hoffmann. Leipzig: Bethmann, 1853. S. 193.

Mitleid ist eine Empfindung, die in der Gewaltfreien Kommunikation nicht vorgesehen ist. Ist das gefühllos? Roh? Marshall Rosenberg schreibt in einem seiner Bücher von einer Freundin, die schwer erkrankt war, und ihn bat: „Komm und spiele mit meinem Schmerz!“ Das mag zunächst sehr befremdlich klingen, beinhaltet aber ein besonderes Geschenk. Häufig ist es so, dass es für denjenigen, der mit einer schwierigen Lebenslage fertig werden muss, noch schwieriger wird, wenn andere augenscheinlich darüber völlig verzweifelt sind. Der Krebspatient, der eigentlich alle Kraft auf seine Genesung konzentrieren möchte, tröstet nun auf einmal seine Angehörigen, die mit der Situation nicht fertig werden. Sie bemitleiden ihn und er versucht ihnen Kraft zu geben – ist das sinnvoll? Ist das hilfreich? Ich vermute, dass jemand, der schwer krank ist, nicht noch die Energie hat, sein Gegenüber zu trösten.

Manchmal kommt es auch vor, dass Menschen im Versuch zu trösten den Schmerz des anderen klein reden. „Jetzt lass dich bloß nicht hängen“, sagen sie dann. Oder „Kopf hoch, es kommen auch wieder bessere Zeiten!“ Oder „Du Arme, das ist ja auch wirklich schwer für Dich!“ All diesen Äußerungen ist eins gemeinsam_ Weder ist der Sprecher bei sich – „Wie geht es mir, wenn ich dies höre?“ – , noch ist er bei seinem Gegenüber – „Wie geht es Dir, wenn du so sprichst?“ Im Englischen haben wir den Begriff „to talk down to someone“, im Deutschen würde man vielleicht sagen „von oben herab sprechen“, was es aber nicht ganz trifft. Wenn ich dem anderen sage, er solle sich nicht so hängen lassen, ordne ich sein Verhalten ein in die berüchtigte Skala zwischen Richtig und Falsch. Hängen lassen ist falsch, zusammenreißen ist richtig. Und wenn ich den anderen bemitleide, „oh, du Armes, wie schrecklich ist das alles!“, besteht die Gefahr, ihn klein zu machen und ich verpasse vielleicht die Chance, wirklich empathisch für ihn da zu sein.

Mitleid macht uns handlungsunfähig oder lässt uns vergessen, wo wir selber stehen, was unsere ureigene Aufgabe ist. Wir können unser Gegenüber, das gerade schwer zu kämpfen hat, besser unterstützen und liebevoll begleiten, wenn wir „in seinen Schuhen mitlaufen“. Wenn wir uns empathisch verbinden, ohne zu verschmelzen, ohne die Probleme des anderen lösen zu wollen, sind wir belastbare Freunde, auf die in der Not Verlass ist. Wir können den Schmerz unseres Mitmenschen ertragen, ohne ihm dabei eine zusätzliche Last zu werden.

Heute will ich in mich hineinspüren, wo mich Mitleid anfliegt. Was brauche ich, wenn mich die Probleme anderer Menschen in dieser Weise berühren?

Generaldirektor in eigener Sache

Um Seelenfrieden zu erlangen, musst du auf deinen Wunsch verzichten, Generaldirektor des Universums zu sein.
Larry Eisenberg

Erst seit ein paar Jahren fällt mir auf, dass ich gelegentlich „allmächtige“ Anflüge habe. Sie äußern sich in folgenden Anzeichen:
Ich weiß, was für andere Leute gut ist
Ich weiß, was andere Leute brauchen
Ich weiß, wie andere Leute drauf sind
Ich weiß, was andere Leute tun und lassen sollten.
In der Gewaltfreien Kommunikation lernen wir, diese Anwandlungen mit Liebe anzuschauen und auf unsere Bedürfnisse zu gucken. Was brauche ich, wenn ich „weiß“, was für andere Leute gut ist? Möchte ich zu ihrem Wohlergehen beitragen? Möchte ich meine Kreativität einbringen, um ihre Probleme zu lösen? Möchte ich Zugehörigkeit, Wertschätzung und Leichtigkeit befördern? Geht es mir um Effizienz, Beteiligung oder Harmonie?

Es hilft, wenn ich mir zunächst darüber klar werde, welche Gefühle in mir lebendig sind. Und dann kann ich im nächsten Schritt mein Gegenüber fragen, ob ich zu seinem Wohlergehen einen Beitrag leisten kann. Vielleicht ist aber auch nach dieser inneren Klärung ein ganz anderer Schritt fällig. Vielleicht kann ich mich dann darauf besinnen, dass ich auch Dinge zu tun habe, die eine hohe Priorität für mich haben. Dann richte ich meine Aufmerksamkeit auf meine Angelegenheiten, statt als Generaldirektor des Universums das Leben anderer Menschen zu managen.

Heute will ich überprüfen, ob ich die Angelegenheiten anderer Menschen bearbeiten will. Wenn ich mich dabei beobachte, frage ich mich, welches Bedürfnis in mir lebendig ist und überprüfe, ob es in meinem eigenen Leben vielleicht auch Unerledigtes gibt, das meiner Aufmerksamkeit bedarf.

Das Fehlen von Fehlern

You have never done anything wrong!
(Du hast niemals irgendetwas falsch gemacht)

Marshall Rosenberg

Dieser Satz – Du hast niemals irgendetwas falsch gemacht – geht wohl den meisten von uns nicht von den Lippen. Ja sicher, grundsätzlich haben wir das Konzept verstanden: Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Aber der Kauf dieses Autos… das war ein Fehler. Die Nacht mit der Kneipenbekanntschaft – das war ein Fehler. Die Ohrfeige für den Sohn, als wir uns nicht im Griff hatten… Fehler, Fehler, Fehler…
Auch wenn wir heute vielleicht grundsätzlich mit uns und unserem Leben, unserem Verhalten zufrieden sind, hat doch fast jeder von uns „eine Leiche im Keller“, trägt etwas mit sich herum, was er heute rundheraus als Fehler bezeichnet. Fehlkauf, Fehlverhalten, falsch. „Ich war ein Idiot!“ oder „Wie konnte ich nur…“ Und es scheint fast unmöglich, den Satz „Du hast keinen Fehler gemacht“ auf uns selbst anzuwenden. Was ist mit Verbrechern? Was ist mit Hitler? War das etwa kein Fehler?
Folgt man Marshalls Definition, gibt es tatsächlich keine Fehler, sondern all unsere Handlungen entspringen unseren Bedürfnissen. Wir handeln (oder unterlassen) aus guten Grund, nämlich um in der jeweiligen Situation unser Leben zu bereichern. Handlungen, die andere Leute als Fehler bezeichnen, sind damit für Marshall ein tragischer Ausdruck eines wundervollen Bedürfnisses.
Nun geht es nicht etwa darum, uns zu rechtfertigen, sondern uns zu vergeben für die Dinge, die wir heute als „falsch“ oder „Fehler“ bezeichnen. „Wenn ich in der Situation gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich mich anders verhalten“, heißt der neue Denkansatz. Und diese Auffassung gilt auch dann, wenn wir schon in der Situation wussten, dass unser Verhalten fatale Folgen haben würde. „In diesem Fall ist ein Bedürfnis in uns so groß, so mächtig, dass wir keine Chance haben, die anderen Bedürfnisse zu berücksichtigen“, sagt Marshall. „Wir können in diesem Moment einfach keinen Weg sehen, diesen anderen Bedürfnissen Rechnung zu tragen!“


Heute will ich dafür aufmerksam werden, wie ich meine Entscheidungen bewerte. Wenn mein innerer Richter sie als falsch bezeichnet, will ich versuchen herauszufinden, welches wunderbare Bedürfnis ich mir mit dem Verhalten erfüllt habe.

Unkenrufe

„Da springen die Gedanken ihm hinein,
Wie aufgeschreckte Unken in den See,
Und singen ihm betrübte Melodein.
Sie rufen übers weite Schlachtgefild
Das Unkenlied des Zweifels dumpf und wild:“

– Nikolaus Lenau: Die Albigenser

„Das geht doch nie gut…“ oder „so kann man das doch nicht machen, das funktioniert nicht!“ sind vertraute Unkenrufe. Wohl jeder von uns hat Zeiten, in denen er zweifelt, ob ein anvisiertes Ziel auf die geplante Weise erreicht werden kann. Wenn wir uns mit dem Phänomen der Schwarzseherei beschäftigen, kommen wir mit einer Fülle von Bedürfnissen in Kontakt.
Widmen wir uns zunächst dem Menschen, der Bedenken hat, der in Sorge ist, dass ein Plan nicht aufgehen wird. Welche Gefühle sind in ihm lebendig? Ich vermute, er ist besorgt, irritiert, unruhig, vielleicht angespannt, frustriert, eventuell wütend, wenn sein Rat schon öfter ausgeschlagen wurde, lustlos, sorgenvoll, unter Druck, verzweifelt, verspannt und widerwillig. Vielleicht noch das eine oder andere mehr, je nach Situation wahrscheinlich auch das eine oder andere weniger. Ist der Betroffene in der Kraft, spürt er vielleicht eher Wut, ist er in der Schwäche, spürt er vielleicht eher Verzweiflung oder Frustration.
Welche Bedürfnisse sind in uns unerfüllt, wenn wir düstere Prognosen stellen und solche Gefühle der Besorgnis oder Frustration haben? Ich vermute, Vertrauen, Verbindung, vielleicht auch Zugehörigkeit oder Beteiligung (andere schmieden Pläne, die man selbst nicht für machbar hält), Effektivität und Sicherheit sind in solchen Situationen im Mangel. Und was wir als erstes brauchen ist Einfühlung.

Wie geht es uns, wenn wir wunderbare, kühne Pläne schmieden und unser Gegenüber uns seine Bedenken schildert? Vielleicht sind wir frustriert und wütend, irritiert, bestürzt, bitter, geladen, schockiert, unbehaglich, streitlustig und verletzt. Vermutlich sind unsere Bedürfnisse nach Leichtigkeit, Vertrauen, Unterstützung, Kreativität, Verbindung, Autonomie, Wertschätzung, Verständnis und Begeisterung im Mangel.

Ist es nicht berührend festzustellen, wie beide Menschen mit so ähnlichen Gefühlen und Bedürfnissen beschäftigt sind, obwohl sie anscheinend auf verschiedenen Seiten stehen?

Kann es einen gemeinsamen Weg geben? Ich glaube schon. „Wie geht es dir, wenn du meine Bedenken hörst?“ baut eine Brücke zu unserem Nächsten. „Was brauchst du, um deine Bedenken loszulassen“, pflastert den Steg. Alle Bedürfnisse können erfüllt werden, deine und meine. Vorausgesetzt, unsere Absicht ist Verbindung.

Heute will ich in mich hineinspüren, wenn ich Bedenken und Einwände habe. Was fühle ich, was brauche ich?

Strategien

„Ich glaube, die Verbesserung der Lebensbedingungen armer Menschen ist eine bessere Strategie als Geld für Gewehre. Der Kampf gegen den Terrorismus kann nicht durch Militäraktionen gewonnen werden.“ – Muhammad Yunus, Dankesrede zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises, 10.12.2006.

Der Nobelpreisträger Muhammad Yunus, der als Bankier Mikrokredite an die Ärmsten in Pakistan vergibt und so zur Gründung unzähliger Kleinstunternehmen beigetragen hat, erläuterte in seiner Nobelpreisrede seine Strategie: Die Verbesserung der Lebensbedingungen armer Menschen ist ein Beitrag gegen den Terrorismus. Ich vermute, sein Bedürfnis ist Beitragen, Harmonie/Frieden und Unterstützung, seine Strategie ist die Vergabe von Geld.
Im Alltag fällt es uns manchmal schwer, zwischen Bedürfnissen und Strategien zu unterscheiden.
Ein Bedürfnis öffnet eine Tür, eine Strategie kann sie schließen.
In der Gewaltfreien Kommunikation lernen wir, unsere Bedürfnisse klar zu benennen. Aber wenn es darum geht, die Bedürfnisse zu erfüllen, wird die Luft schnell dünn. „Aber ich will mit meinem Freund zusammen wohnen“ ist zum Beispiel so ein Wunsch. Das Bedürfnis dahinter könnte Unterstützung, Verbindung, Nähe, Wärme, Leichtigkeit, Kosteneffizienz oder Sexualität sein. Sich eine Wohnung zu teilen ist eine Strategie, mit der versucht wird, sich all diese Bedürfnisse auf einen Schlag zu erfüllen. „Unser Auto ist kaputt, wir brauchen ein neues!“ stellt den Betroffenen vor ein ähnliches Problem. Was ist das Bedürfnis? Leichtigkeit? Autonomie? Flexibilität? Verbindung? Und mit welchen verschiedenen Strategien könnten diese wunderbaren Bedürfnisse befriedigt werden? Es gibt sicher mehr als nur die Möglichkeit, sich für ein neues Auto zu verschulden.

Gern werden in der Partnerschaft Lieblingsstrategien mit Bedürfnissen gleichgesetzt. „Ich brauche es, dass du mir zuhörst“ oder „mir fehlt deine Unterstützung bei der Hausarbeit“ sind gängige Sätze. Wenn wir genauer hinsehen, erkennen wir im ersten Beispiel vielleicht das Bedürfnis nach Austausch (was sich ebenso gut mit einer Freundin erfüllen ließe) oder nach Unterstützung. Gerade das wird aber nicht genannt. Im zweiten Fall geht es vielleicht nicht unbedingt um Hilfe bei der Hausarbeit, sondern um Ausgleich, Wertschätzung, Nähe oder Zugehörigkeit. Es lohnt sich also, die Bedürfnisse freizulegen, denn dann steigt die Chance, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllt werden.

Thomas D’Ansembourg schreibt in einem seiner Bücher von einem Paar, das einen gemütlichen Abend verbringen will. Er hat in einem nahen Restaurant einen Tisch gebucht. Sie hat nach der Arbeit noch schnell beim Schlachter ein paar Leckereien für den Abend eingekauft. Fassungslos stehen sich die beiden gegenüber und bekommen ihre unterschiedlichen Strategien nicht unter einen Hut. Beide wünschen sich Leichtigkeit und Zeit füreinander. Dummerweise sprechen sie sich nicht ab, und so findet jeder seine eigene Lieblingsstrategie, die leider nicht mit dem des anderen harmoniert. Im Gespräch konnte das Paar schließlich herausfinden, dass für beide Partner das ideale Abendprogramm ein Picknick an einem nahen See gewesen wäre… vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal, wenn man halt vorher miteinander redet…

Heute will ich erst auf meine Bedürfnisse achten, und dann Strategien zu ihrer Erfüllung entwickeln.

Abenteuer Ehrlichkeit

Jede kleine Ehrlichkeit ist besser als eine große Lüge….
– Leonardo da Vinci (1452 – 1519) –

Vielen von uns fällt es schwer, ehrlich zu sein. Da ist der Mann, der die alte Beziehung noch nicht final beendet hat, aber schon eine neue Frau umwirbt. Da ist die Frau, die sich in einen Mann verliebt hat, aber sich nicht traut, es ihm zu sagen. Da ist der Vorgesetzte, der mit der Leistung eines Mitarbeiters unzufrieden ist, aber es nicht klar ausspricht. Da ist die Tochter, die sich über das Schweigen der Mutter ärgert, aber selbst auch keinen Kontakt sucht…

Wie kommt es, dass wir Ehrlichkeit für einen hohen Wert halten, aber selbst immer wieder in Situationen kommen, in denen wir nicht ehrlich sind?

Häufig war es in der Vergangenheit so, dass wir für unsere Ehrlichkeit einen hohen Preis bezahlt haben. Solange wir in dem Glauben gefangen waren, unsere Aussagen oder Handlungen seien der Grund für den Schmerz anderer, war es risikoreich, unserem Bedürfnis nach Ehrlichkeit Raum zu geben. Das konnte seinen Anfang durchaus im Kindergartenalter nehmen. „Tante Lisa ist traurig, wenn du ihr kein Küsschen gibst“… Später waren die Eltern enttäuscht, wenn das Kind schlechte Noten nach Hause brachte, oder entrüstet, wenn der Nachwuchs mit langem Haar oder Punkfrisur nach Hause kam. Immer wieder bekamen wir zu hören: Du bist dafür verantwortlich, wie es mir geht.

Je länger wie die Gewaltfreie Kommunikation praktizieren, desto leichter fällt es uns, unsere Meinung zu sagen, zu unseren Ansichten zu stehen, unseren eigenen Bedürfnissen nachzuspüren und uns für ihre Erfüllung einzusetzen. Denn uns wird mehr und mehr bewusst, dass wir vielleicht einen Auslöser für den Schmerz unseres Gegenübers liefern. Doch verantwortlich für seine Gefühle sind wir nicht.

Und noch etwas Neues lernen wir. Wir können unserem Bedürfnis nach Ehrlichkeit und Klarheit nachgeben und gleichzeitig den anderen sehen. „Was brauchst du, um mit dieser Situation, Aussage, Handlung klar zu kommen? Wie kann ich einen Beitrag dazu leisten, dass auch dein Leben wunderbar wird, ohne die Verantwortung für mein Leben und meine Bedürfnisse zu vernachlässigen?“

Je mehr uns bewusst wird, dass wir für den Schmerz des anderen nicht verantwortlich sind, und je stärker das Bewusstsein in uns wächst, dass wir auch dann für den anderen da sein können, wenn wir nicht das tun, was er oder sie erwartet, desto leichter wird es uns fallen, ehrlich zu sein. Und diese Ehrlichkeit wird dazu führen, dass unsere Herzen für andere offen sind.

Heute will ich beobachten, wo ich noch nicht ehrlich mit meinem Gegenüber bin. Ich will überprüfen, welches wundervolle Bedürfnis ich mir erfülle, wenn ich schweige oder die Unwahrheit sage.

Die Auster

Eine traurige Geschichte

Ein Hering liebt‘ eine Auster
Im kühlen Meeresgrund;
Es war sein Dichten und sein Trachten
Ein Kuss von ihrem Mund.

Die Auster, die war spröde,
Sie blieb in ihrem Haus;
Ob der Hering sang und seufzte,
Sie schaute nicht heraus.

Nur eines Tags erschloss sie
Ihr duftig Schalenpaar;
Sie wollt im Meeresspiegel
Beschauen ihr Antlitz klar.

Schnell kam der Hering geschwommen,
Streckt seinen Kopf herein
Und dacht an einem Kusse
In Ehren sich zu freun!

O Harung, armer Harung,
Wie schwer bist du blamiert!
– Sie schloss in Wut die Schalen,
Da war er guillotiniert.

Jetzt schwamm sein toter Leichnam
Wehmütig im grünen Meer
Und dacht: „In meinem Leben
Lieb ich keine Auster mehr!“

Joseph Viktor von Scheffel (1826-1886)

Wohl jeder von uns kennt Situationen, in denen es ihm so ging wie dem Hering. Da haben wir uns genähert und zack! war der Kopf ab. Ich vermute aber auch, wir alle tragen auch ein Stück weit die Auster in uns. Die dicke, mit Perlmutt ausgekleidete Schale schützt ein empfindsames Wesen. Die Schale haben wir uns angeeignet, weil sie die beste Strategie erschien um unser verletzliches Inneres in Sicherheit zu bringen.
Dieser Schutzpanzer stammt aus der Zeit der emotionalen Sklaverei. In dieser Epoche glaubten wir, wir seien für das Wohl und Wehe anderer Menschen verantwortlich, und andere Menschen könnten uns mit dem, was sie sagen, verletzten.
In der Gewaltfreien Kommunikation lernen wir, dass uns nur unsere eigenen Gedanken verletzen können. Und wir lernen, dass das Nein unseres Gegenübers das Ja zu etwas anderem ist. Wir lernen, dass es so etwas wie Zurückweisung, Verarsche, angegriffen oder beleidigt werden nicht gibt. Wir lernen, Sorge zu tragen für unsere emotionale Sicherheit und wir lernen, uns für die Erfüllung unserer Bedürfnisse einzusetzen. Und je besser uns das gelingt, desto weniger brauchen wir unsere Austernschalen.

Heute will ich beobachten, wann meine Austernschalen zuklappen wollen. Ich werde dem nachspüren, was meinen Sicherheitsmechanismus aktiviert hat und herausfinden, welche Bedürfnisse dabei unerfüllt sind.

Von Herzen nehmen und geben

Danke, für alle guten Freunde,
Danke, o Herr, für jedermann,
Danke, wenn auch dem größten Feinde
Ich verzeihen kann.
Vers aus einem Kirchenlied

Dankbarkeit kann unser Leben unendlich bereichern. Und jeden Tag gibt es unendlich viele Gründe, dankbar zu sein. Manches nehmen wir überhaupt nicht mehr als Anlass für Dankbarkeit wahr. Dass wir satt zu essen haben, ein Dach über dem Kopf, ein funktionierendes Telefon oder Internet. Die Tatsache, dass wir uns selbst erhalten können oder die Tatsache, dass wir Unterstützung von staatlichen Stellen bekommen, und sei es auch noch so wenig.
Dankbarkeit wird leider nicht immer in reiner Form ausgeliefert, frisch, kraftvoll, golden glänzend. Gelegentlich kommt sie vermischt mit Scham. „Das kann ich nicht annehmen. Das ist mir peinlich“. Oder sie kommt mit Unbehagen. „Was muss oder soll ich dafür leisten, dass mir jetzt dieses Geschenk zuteil wird?“ Sie kommt zähneknirschend: „Das hätte ich für mich selbst tun können und es frustriert mich, es von dir zu erhalten.“

Manchmal liegt es an uns, warum wir uns über ein Geschenk, eine Aufmerksamkeit, eine Liebe nicht richtig freuen können. Dann melden sich unsere Wächter, die Wölfe zu Wort.
Manchmal liegt es am Geber, dass bei uns die Freude nicht so recht aufkommen mag. Selbst die Freude über ein neues Auto bleibt ein bisschen gedämpft, wenn die Eltern das Geschenk mit der Aussage überreichen: „Du schaffst es ja nicht, dir dafür etwas zusammenzusparen.“ Da ist dann wohl erst mal ein bisschen Übersetzungsarbeit gefragt.

Wir können überprüfen, ob wir selber aus tiefstem Herzen geben, oder ob wir mit unserem Geschenk, unserer Dienstleistung oder unserem Ausharren verborgene Motive haben. Bügele ich deine Hemden, weil es mir eine Freude ist, oder tue ich es, weil ich erwarte, dass du dafür endlich die Lampe in der Küche reparierst? Im zweiten Fall wird unsere Gabe zur Dienstleistung, und es ist unwahrscheinlich, dass der andere sie aus tiefstem Herzen annehmen kann. Vermutlich würde uns dann ein „Danke“ und eine Umarmung nicht wirklich begeistern, denn eigentlich erwarten wir etwas anderes zurück.

Wie lernen wir, aus tiefstem Herzen zu geben? Indem wir uns abgewöhnen etwas zu geben, was nicht aus tiefstem Herzen kommt. Es ist wie bei der Bildhauerei. Nimm einen Marmorklotz und haue alles weg, was nicht wie eine Statue aussieht, und zurück bleibt: die Statue.

Heute will ich bei all meinem Geben nachspüren, ob es aus meinem tiefsten Herzen kommt. Wenn es nicht der Fall ist, überprüfe ich die Motive für mein Geben und entscheide mich gegebenenfalls neu.

Das Leben feiern

Unsere tiefste Angst ist nicht,
ungenügend zu sein.

Unsere tiefste Angst ist,
daß wir über alle Maßen kraftvoll sind.

Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit,
was wir am meisten fürchten,

Wir fragen uns, wer bin ich denn,
um von mir zu glauben, daß ich brillant,
großartig, begabt und einzigartig bin?

Aber genau darum geht es,
warum solltest Du es nicht sein?

Du bist ein Kind Gottes.

Dich klein zu machen nützt der Welt nicht.

Es zeugt nicht von Erleuchtung, sich zurückzunehmen,
nur damit sich andere Menschen um dich herum
nicht verunsichert fühlen.

Wir alle sind aufgefordert, wie die Kinder zu strahlen.

Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes,
die in uns liegt, auf die Welt zu bringen.

Sie ist nicht in einigen von uns,
sie ist in jedem.

Und indem wir unser eigenes Licht scheinen lassen,
geben wir anderen Menschen unbewusst die Erlaubnis,
das Gleiche zu tun.

Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind,
befreit unser Dasein automatisch die anderen.

Marianne Williamson

Wenn wir in der Gewaltfreien Kommunikation Dankbarkeit ausdrücken, unterscheidet sich das sehr vom Lob oder der Anerkennung, die wir üblicherweise in der Schule oder am Arbeitsplatz erfahren. „Das hast du gut gemacht“ heißt es da. Oder „Ihre Idee war brillant!“. Diese Form der Anerkennung stellt Sender und Empfänger nicht auf eine Stufe, sondern der eine wird durch ein positives Urteil des Ranghöheren quasi geadelt. Am nächsten Tag kann aus der brillanten Idee ein schwachsinniger Vorschlag geworden sein oder ein Verhalten, das heute als gut bezeichnet wird, ist morgen oder in einem anderen Umfeld komplett unerwünscht.

„Aber ich möchte doch meinen Auszubildenden, meinen Partner, meinen Mitarbeiter loben, um sein Selbstwertgefühl zu heben“, wird Marshall in solchen Situationen dann oft entgegnet. Doch er erklärt: „Ich denke nicht, dass wir damit anderen mehr Selbstwertgefühl geben. sondern sie süchtig machen, nach der Zustimmung anderer zu suchen.“ Wenn eine Person sich immer danach orientiert, von anderen Zustimmung zu erhaschen, wird sie vermutlich nicht mit ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen verbunden sein. Aus diesem Grund verzichten wir in der GfK auf „lobende“ Bewertungen, sondern haben eine einzige Absicht: Wir wollen das Leben feiern, indem wir teilen, welches Verhalten unseres Gegenübers unser Leben bereichert hat.

Warum können wir mit Dankbarkeit oft so schwer umgehen, zucken mit den Achseln, sagen, „ach, das war doch nichts…?“ Vielleicht liegt es daran, dass wir es nicht gewohnt sind zu erfahren, wie wunderbar es ist, das Leben eines anderen zu bereichern. Es macht uns verlegen, manch einer fühlt Scham oder hört die Wölfe heulen: „Bilde dir bloß nichts ein. Das war doch nichts, nichts wert…“ Es sind Botschaften aus der Vergangenheit, einst installiert zu unserem Schutz, doch heute gibt es für sie keine Notwendigkeit mehr.

Heute will ich daran erinnern, dass ich dafür bestimmt bin, mein Licht leuchten zu lassen. Wenn mir Dank zuteil wird, weil ich das Leben anderer bereichert habe, will ich mich daran erfreuen.

Wenn die Wölfe heulen

„Respekt und Achtung verlieren sich am schnellsten in der Wut.”
Julian Scharnau (*1983), deutscher Aphoristiker, Quelle: „Das Patent, gegen die Dummheit der Menschheit.“

Ich werde abgezockt. Die wollen mich über den Tisch ziehen! Der glaubt, er hätte einen Dummen gefunden. Die wollen mich verarschen… Wem sind solche Gedanken nichr vertraut?! Das Produkt, für das wir beim Einkauf mehr bezahlt haben als uns lieb ist, die hohe Rechnung eines Handwerkers, ein Mangel an Information und schon sind sie aktiv, die Wölfe in unserem Inneren. Sie heulen ohrenbetäubend, aber wir haben eine Chance, sie mit dem Herzen zu hören.

Welche Gefühle sind in uns lebendig, wenn wir uns „abgezockt“ fühlen? Wahrscheinlich sind es Ohnmacht, Wut und Frustration. Wie geht es uns tief in unserem Inneren, wenn wir denken, wir würden „verarscht“? Ist es nicht so, dass wir Angst haben, und das unsere Bedürfnisse nach Fairness, Klarheit, Ausgleich oder Kongruenz im Mangel sind?

Das jahrelange Leben im Wolfsrudel hat dazu geführt, dass wir so schnell vom Bauch zum Kopf kommen, dass wir gar nicht merken, welche Gefühle wirklich in uns lebendig sind. Wir spüren nur, dass es mächtige, intensive Gefühle sind. Wie bitter, wenn sie uns zum Handeln verführen ohne dass wir wissen, welche Berdürfnisse unerfüllt sind!

An dieser Stelle ist es hilfreich, unseren Wölfen sehr genau zuzuhören. Sie verraten uns, was wir brauchen. Ihr Geheul wird einfach ins Giraffisch übersetzt. Und mit einer gehörigen Portion Einfühlung werden wir in die Lage versetzt, uns um unsere unerfüllten Bedürfnisse zu kümmern, ohne einen echten Rücksturz in die Welt aus Richtig oder Falsch zu erleben. Unsere Wölfe weisen uns den Weg – wenn wir bereit sind, ihnen zunächst einmal zuzuhören.

Heute will ich genau zuhören, was meine Wölfe mir über meine Bedürfnisse verraten. Wenn ich allein keinen Ausweg aus der Wolfswelt finde, suche ich Kontakt zu einer Giraffe und tanke Empathie.

Von Klobürsten und Milchläden

Hallo, Welt!

Meine Kollegin Mackenzie bringt mich ins Schleudern. Wenn ich hier unbeschwert schreiben will, sollte ich ihre Tagesmeditationen zur Zeit nicht lesen. Gestern schrieb sie doch tatsächlich zu einem Thema, das mich seit Jahren beschäftigt. Einkaufen. Oder anders formuliert: Wie komme ich an das, was ich brauche? Was kann, muss ich tun, um meine Bedürfnisse zu erfüllen?

Ich habe im Freundeskreis oft im Scherz gesagt, ich würde immer wieder ins Gemüsegeschäft gehen, um eine Klobürste zu kaufen. Und meine liebe Freundin Tabasco schrieb mir dazu:

Nur so gibt es den täglichen garantierten Frust.
Ich frage überhaupt nur im Gemüsegeschäft nach Klobürsten.
Du kannst mir auch die Augen verbinden und mich losschicken, um eine Klobürste zu kaufen. Ich werde das Gemüsegeschäft auch mit geschlossenen Augen erkennen. Es hat eine magische Anziehungskraft. Jeder andere Laden ist abstoßend oder langweilig. Und wenn ich irgendwo reinkomme, wo Klobürsten angeboten werden, renne ich sofort wieder raus, misstrauisch, skeptisch, ängstlich …
Entrüstet: Da will mir einer eine Klobürste verkaufen und das ist überhaupt kein Gemüsehändler!

Ja, wir haben beide schon ein besonderes Talent, in einem Laden nach Dingen zu suchen, der das gefragte Produkt gar nicht führt.

Mary Mackenzie nun schrieb in ihrer Tagesmeditation Nr. 99 von einer Frau, die im Eisenwarengeschäft Milch kaufen wollte. Offensichtlich muss es sich um eine verschollene Schwester von Tabasco und mir handeln, denn das beschriebene Verhalten ist uns nur zu gut bekannt.

Die Geschichte hat natürlich auch eine Moral. Sie zeigt nämlich zweierlei. Zum einen ist mal ganz klar, dass es Geschäfte für Milch, für Klobürsten, für Gemüse und für Eisenwaren gibt. Wir haben also alle Chancen, das gewünschte Produkt zu kaufen. Zum zweiten geht es darum zu lernen, nicht immer an einer Tür zu klingeln, wo bildlich gesprochen keiner zu Hause ist. Sondern eben an die Tür zu gehen, wo auch aufgemacht wird.

Mein Partner ist ein begnadeter Handwerker und phänomenaler Grillmeister, aber er schläft im Theater immer ein? Warum soll ich ihn quälen, mit mir ins Theater zu gehen? Warum mache ich das nicht mit einer Freundin, die genau so viel Freude wie ich am Ring der Nibelungen hat? Ich selber finde Eiskunstlauf wunderschön, Fußball aber sterbenslangweilig. Muss ich deshalb mit ins Stadion, wenn der HSV gegen Bremen spielt? Wo holt mein Partner seine Milch? Wo kaufe ich meine Klobürste? Alle meine Bedürfnisse können erfüllt werden, wenn ich mich für ihre Erfüllung einsetze. Das setzt voraus, dass ich eben dort an der Tür klingele, wo meine Wünsche erfüllt werden können. DAS ist meine Verantwortung.

Heute will ich ein Auge darauf haben, ob ich an der geeigneten Adresse meine Bedürfnisse befriedigen will. Wenn mir auffällt, dass ich an der unpassenden Adresse bin, werde ich mich fragen, wo meine Bedürfnisse erfüllt werden können und mich dafür einsetzen.

Dir zuliebe

Frach Mich Net (wie’s Mir Geht)
Ich hab mir 25 Mark geborgt,
Oropax und Chris de Burgh besorgt.
Alles wegen Dir!

Hab mich wirklich Tag und Nacht gequält
sogar einmal SPD gewählt.
Alles wegen Dir!

Ich hab geglaubt, wir gehn durch alle Höhen und Tiefen,
jetzt bist Du mit dem Windsurflehrer auf den Malediven.

O o o o o frach misch net wies mir geht

Damit die Ente vor der Disco strahlt,
hab ich sie rosa angemalt.
Alles wegen Dir!

Und weil die Selbsterfahrungsgruppe tagt,
hab ichs Bodybuilding abgesagt.
Alles wegen Dir!

Ich hab gedacht, du stehst so mehr auf innere Werte,
und jetzt auf einmal fährst Du ab auf männliche Härte

O o o o o …

Seit einem Jahr trag ich das Haar
so wie das Haar von Woytyla.
Alles wegen Dir!

Und ess sogar in Sonderfällen
eine Pizza mit Sardellen.
Alles wegen Dir!

Du hast gesagt, du akzeptierst nur Weise und Ästheten,
jetzt läßt Du Dich verschaukeln von dem Analphabeten.

Rodgau Monotones, von dem Album „Volle Lotte“
(hier ein Youtube-Ausschnitt von Rodgau Monotones, ab 1:45 geht der Song los )

Eines unserer stärksten Bedürfnisse ist nach Ansicht von Marshall Rosenberg das Bedürfnis beizutragen, das Leben unseres Gegenübers zu bereichern. Da es viele von uns nicht gelernt haben, dabei auch auf Authentizität, Autonomie, Ehrlichkeit, Echtheit und vielleicht auch Ausgleich zu achten, kann uns dieses Bedürfnis in Teufels Küche bringen, wenn wir nämlich nicht mit all unseren Gefühlen und Bedürfnissen verbunden sind.

Schwierig wird es immer dann, wenn wir bei einem „dir zuliebe“ uns selbst aus den Augen verlieren. Vielleicht erfülle ich mir mein Bedürfnis nach Beitragen. Aber wenn ich immer dir zuliebe den Müll runterbringe, wächst in mir vielleicht irgendwann der Frust, weil ich eben auch den Wunsch nach Ausgleich und Unterstützung habe. Fahre ich Dir zuliebe im Urlaub immer an die See, kann dadurch eine ungute Geschiebelage entstehen. Zum einen trage ich meinen eigenen Bedürfnissen vielleicht nicht Rechnung. Ein Jahr lang mag das gehen. Aber zehn Jahre lang meine Sehnsucht nach den Bergen zu verleugnen wird unter Garantie Spuren hinterlassen. Beide werden dafür bitter bezahlen: Der Geber und der Empfänger. Und die Beziehung wird durch dieses nur vermeintlich liebevolle Verhalten nicht bereichert, sondern geschwächt.

Besonders schwierig wird es, wenn wir aus dem „dir zuliebe“ eine unausgesprochene Verpflichtung ableiten. Weil ich seit Jahren deine Hemden bügele, bist du mir zu sexueller Treue verpflichtet. Weil ich jedes zweite Wochenende in der Bahn sitze, um dich zu besuchen, bist du verpflichtet, deinen Job zu wechseln und in meine Gegend zu ziehen.Dann sind wir nicht mehr bei Beitragen und freudig geben, dann haben eine eine Payback-Karte, auf die wir einzahlen und wo wir hoffen, irgendwann werde sich das Konto ausgleichen. Da wir aber gleichzeitig gar nicht offen mit unseren Einzahlungen umgehen, also gar nicht verraten, dass wir eine Gegenleistung wünschen, und wie diese aussehen könnte, wird ein „dir zuliebe“ dann ganz oft zum Boomerang, der uns selbst am Kopf trifft und ausknockt.

Heute will ich mich vor allen „dir zuliebe“ hüten, die eine eingebaute Rückzahlungsforderung enthalten. Alles was ich bereit bin für andere zu tun, tue ich aus der Freude des Gebens, nicht etwas aus Schuld- oder Verpflichtungsimpulsen.

Über Selbstverpflichtung

Ich beginne meine Gedanken zum heutigen Tag mit einem untypischen Zitat, nämlich mit der GfK-Tagesmeditation

Peaceful Living
by Mary Mackenzie

Man kann diese Tagesmediationen über die Seite von Puddle Dancer Press abonnieren, es gibt sie auch als Buch, und inzwischen auch auf deutsch.

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„Recovery is about more than walking away. Sometimes it means learning to stay and deal. It’s about building and maintaining relationships that work.“
– Melody Beattie

Day 97: Commitment

Do you ever give up on disagreements by walking away, either temporarily or permanently? Do you ever simply not engage in a conflict because you’re certain the situation cannot be resolved?

Sometimes, taking a break from conflict is a good thing because it gives the people involved a chance to calm themselves. Deciding not to engage can be a good choice.

Many times, though, people give up too soon, which decreases the possibility for resolution. This speaks to their level of commitment. How committed are they to valuing each other’s needs? How committed are they to finding resolution?

If we start a disagreement based on the consciousness that we want to get our own way or that the other person doesn’t care, we diminish the opportunity for success before we’ve even opened our mouth. Commitment is about living from our values even when it’s uncomfortable and tiring. It is a choice.

I once heard a speaker say that he had finally met his soul mate. He asked the audience if they knew how he knew that. They said no, but leaned forward in their seats because they were certain he was going to tell them something important. He said, „I know she’s my soul partner because I say she is.“ He committed himself to her. Consequently, when he and his wife argue, they focus on resolution because they are committed to staying in the relationship. This small shift in attitude has dramatically deepened their relationship.

Meet any disagreement with clarity about your commitment and with the goal of a resolution that values everyone involved. Who are you committed to? Does he or she know it?

Be aware today of whom you are committed to; when you interact with them, be conscious of your commitment.

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So weit das Zitat von meiner Kollegin aus den USA. Als ich den Entschluss fasste, GfK-Tagesmediationen zu schreiben, wusste ich übrigens nicht, dass es schon welche gibt… Umso mehr freut es mich, dass wir uns beide gern auf Melody Beattie beziehen, die unter anderem das Meditationsbuch „Kraft zum Loslassen“ geschrieben hat.

Ich möchte den obigen Text jetzt nicht im Detail übersetzen (auf Anfrage helfe ich gern), aber doch begründen, warum mich die Sätze so angesprochen haben.
Mary Mackenzie fragt, ob wir aus unserem Leben Situationen kennen, in denen wir „einfach“ weggegangen sind in der Annahme, es könne keine gemeinsame Lösung geben? Und sie glaubt, dass diese Entscheidung etwas mit unserem Commitment, unserer Selbstverpflichtung zu tun hat.
Wenn wir eine Meinungsverschiedenheit mit jemandem haben und davon ausgehen, dass es nach unserer Nase gehen soll, oder dass unser Gegenüber sowieso keine Rücksicht nehmen wird, verringern wir die Gelegenheit auf einen Erfolg, noch bevor wir überhaupt den Mund aufgemacht haben. Im Commitment geht es darum, nach unseren Werten zu leben, auch wenn es unbequem ist, und ermüdend.
Und dann beschreibt Mary anhand eines Beispiels, was den Unterschied ausmacht zwischen Commitment und Nicht-Verpflichtung. Liegt mein Augenmerk auf der Lösung des Konflikts, weil mein Gegenüber und ich uns verpflichtet fühlen, in der Beziehung zu bleiben?
ich brauche also Klarheit über mein Commitment, Klarheit darüber, wozu ich mich selbst verpflichtet fühlen möchte. Das Ziel aller Lösungen sollte sein, dass die Werte eines jeden zählen, von Bedeutung sind. Meine, UND Deine.

Mich machen diese Zeilen sehr nachdenklich, weil ich gern von anderen Commitment einfordere, aber jetzt realisiere, dass ich selber gar nicht immer bereit bin, mich dafür einzusetzen. Vor einigen Monaten habe ich in beruflichem Zusammenhang eine Mediation geleitet. Als einer der Teilnehmer erneut in Not geriet und sich an eine andere Stelle wandte, war ich zutiefst frustriert, traurig und stumm. Ich habe nicht um die Verbindung gerungen, aber ich habe der betreffenden Person innerlich „vorgeworfen“, den Geist unserer Vereinbarung nicht eingehalten zu haben. In meinem Leben gibt es verschiedene Verbindungen zu anderen Menschen, in denen ich von anderen gern Commitment sehen würde – so wie ICH es definiere… – aber selber eben keine klaren Schritte auf den anderen zugehe. Mir ist durch diese Worte von Mary Mackenzie noch einmal deutlich geworden, dass ich bei diesem Thema die eine oder andere Baustelle habe und es hier Raum für Trauer, Wachstum und Veränderung ist.


Heute will ich mir Gedanken machen, von welchen Menschen ich mir Commitment im Sinne von sozialer Verbindlichkeit wünsche. Und ich will überprüfen, wie sehr ich bereit bin, mich selbst diesen Menschen zu verpflichten.

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