Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Präsenz

Wenn wir über die Worte eines Menschen nachdenken und darauf hören, wie sie in unsere Theorie passen, dann schauen wir auf den Menschen – wir sind nicht bei ihm. Die wichtigste Zutat zur Empathie ist Präsenz. Wir sind ganz da für den anderen und seine Erfahrungen. Diese Qualität der Präsenz unterscheidet Empathie von vernunftmäßigem Verstehen und auch von Mitleid. Auch wenn wir uns manchmal dafür entscheiden, Mitleid zu haben, indem wir das fühlen, was die anderen fühlen, sollten wir uns bewusst machen, dass wir in dem Moment des Mitleidens keine Empathie geben.
Marshall Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation

Was macht empathisches Zuhören aus? „Ich versuche zu wiederholen, was mein Gegenüber sagt“ erzählt eine Frau in einem von Marshalls Workshops. „Aber was wiederhole ich. wenn mein Gegenüber sagt, ‘ich brauche wirklich, dass ER mich liebt‘?“
Und Marshall erklärt: „Ich brauche gar nichts zu wiederholen, ich muss nichts paraphrasieren. Bei Empathie geht es nicht darum, etwas Bestimmtes zu sagen oder zu tun. Es geht um Präsenz!“

Wie geht es jemandem, der sagt: ‘Ich brauche wirklich dass ER mich liebt‘? Ist dieser Mensch vielleicht gerade verzweifelt oder in Not, weil ihm Liebe und Sicherheit fehlen? ich habe immer wieder die erstaunliche Erfahrung gemacht, dass es nicht darauf ankommt, ob ich die Bedürfnisse richtig errate. Es kommt darauf an, ob ich wirklich beim anderen bin, in seinen Schuhen mitlaufe.
Ein empathisches Gespräch ist keineswegs erschöpfend, einseitig oder anstrengend. Wenn wir für eine gewisse Zeit ganz beim anderen sein können, vergessen wir vielleicht sogar für einen kurzen Moment, was uns selbst gerade belastet, und die Freude und Nähe, die uns ein empathischer Kontakt schenken kann, gibt neue Kraft. Wenn mein Gesprächspartner Erleichterung erfahren hat und sich zutiefst verstanden fühlt, ist häufig auch Raum für das, was man selbst auf dem Herzen hat oder darüber zu sprechen, wie es einem mit dem Gehörten ergeht.

Präsenz erfordert auch Mut. Denn es erfordert Mut zu sagen, ich habe heute keine Kapazitäten frei. ich bin erschöpft, ich kann Dir im Moment nicht meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken.

Und Präsenz braucht die Fähigkeit, das Gehörte beim anderen zu lassen. Wir werden nicht verantwortlich für die Lösung des Problems unseres Gesprächspartners. Wir müssen nichts heilen, in Ordnung bringen, richten, wir müssen nicht trösten und nicht beschwichtigen. „Just be“ heißt es so schön knackig im Englischen. Sei einfach.

Heute will ich aufmerksam sein, wann meine Präsenz gut tut. Und ich werde aufmerksam prüfen, ob ich die Kraft habe, mit all meinen Sinnen beim anderen zu sein.

Ratschlagen

Ratschläge sind auch Schläge
Deutsches Sprichwort

Wir Menschen sind soziale Wesen. Nichts bereitet uns größere Freude als das leben unserer Mitmenschen zu bereichern. Leider haben wir in der Wolfswelt nicht so viel Erfahrung damit gesammelt, anderen empathisch zuzuhören. Stattdessen setzen wir oft die Heimwerker-Mütze auf und geben Ratschläge.

Ich habe festgestellt, dass der Impuls, jemand anderem zu sagen, wie er etwas tun oder lassen soll, mit längerem Gebrauch der GfK nachlässt. Stattdessen gelingt es mir immer besser und immer öfter, wirklich nur zuzuhören und zurückzumelden, was bei mir angekommen ist. Immer und immer wieder spüre ich am eigenen Leib, wie wundervoll es sich anfühlt, wenn einfach jemand einfühlsam zuhört.

Unlängst meinte es jemand sehr gut mit mir und machte mir Vorschläge, wie ich mich in einer bestimmten Situation verhalten könne oder solle. An meinen guten Tagen kann ich solche Ratschläge hören und übersetzen. An sehr guten Tagen kann ich meinem Gesprächspartner sogar zurückmelden, welche Gefühle und Bedürfnisse ich aus seinen Äußerungen wahrgenommen habe. An schlechten Tagen bin ich damit beschäftigt, mir selbst Empathie zu geben und meine Wölfe zu beruhigen.

So hatte ich ein paar Jahre die Überzeugung, das Erteilen von Ratschlägen sei gefährlich, unerwünscht, „falsch“. Meine eigene Neigung Ratschläge zu geben führt mich heute immer öfter zu mir: Wie geht es mir, wenn ich diese Information von meinem Gegenüber erhalte? Was ist in mir lebendig, dass ich in dieser Situation so sehr versucht bin, eine Empfehlung auszusprechen? Eine schwierige, spannende Übung, die mich immer wieder zu mir selbst führt und mich mit meinem tiefen Bedürfnis nach Beitragen in Kontakt bringt.

Also lehne ich Ratschläge ab? Aber nein! Unendlich viele Menschen um mich herum haben ein Spezialwissen, von dem ich wunderbar profitieren kann. Sie können mir sagen, welche Haken ich brauche, um ein Bild aufzuhängen. Sie können mir Tipps zum Kraftstoff sparenden Autofahren oder für eine Abkürzung geben. Sie wissen, wie man einen Flecken aus der Wildlederjacke entfernt oder der Katze eine Wurmkur einflößt. Ich bin dankbar, wenn sie mir von ihren Erfahrungen berichten und wenn sie mich darin unterstützen, meine Probleme zu lösen. Der Unterschied zu früher ist: Heute wird immer immer klarer, wann ich mir einen Ratschlag wünsche und wann ich Empathie brauche. Und es gelingt mir immer besser, genau um das zu bitten, was mir gerade gut tut.

Heute will ich aufmerksam beobachten, ob ich anderen ungefragt einen Rat gebe. Ist das der Fall, werde ich liebevoll überprüfen, welches Bedürfnis ich mir damit erfülle.

Ich muss … ich soll …

„Den meisten Leuten sollte man in ihr Wappen schreiben: Wann eigentlich, wenn nicht jetzt?“ Kurt Tucholsky, Schnipsel

Es gibt ein zwei Worte in unserer Sprache, die uns so richtig in Schwung halten. Sie heißen „müssen“ und „sollen“. Und beide gehen nicht gut mit der gewaltfreien Kommunikation zusammen.

Marshall Rosenberg

Marshall Rosenberg erzählt von einer Lehrerin, die unzufrieden damit war, den Kindern Noten zu geben. „Ich muss es tun“, sagte sie frustriert. Gemeinsam fanden sie heraus, dass sich die Lehrerin entschieden hatte, Noten zu geben, denn anderenfalls hätte sie ihren Job verloren. Da sie ihre Arbeit behalten wollte, entschied sie sich, die Leistung der Kinder zu zensieren.

Marshall selbst fühlte in jungen Jahren genervt und frustriert, weil er von sich glaubte, viele quälende Verpflichtungen zu haben. Eines Tages entschied er sich eine Liste aller Dinge zu machen, von denen er glaubte, sie tun zu müssen. Dann ersetzte er „ich muss<…> “ durch die Formulierung „ich entscheide mich, <…> zu tun, weil ich <…>.

Besonders verhasst war ihm das Schreiben von Arztbriefen. Als er seinem „Ich muss Arztbriefe schreiben“ nachspürte stellte er fest, dass der neue Satz vollständig lautete „ich entscheide mich, Arztbriefe zu schreiben, weil ich die Einnahmen aus dem Job brauche“. Als er sich dieser Kausalität bewusst wurde, gab er die Arbeit im Krankenhaus auf und hat von Stunde an nach eigenem Bekenntnis keinen einzigen Arztbrief mehr geschrieben.

Ein weiteres „ich muss“ war auf seiner Liste die Tatsache, dass er zwei Mal pro Woche seine Kinder zu einer weit entfernten Schule fahren musste. Als er diese Aussage umformulierte in „ich entscheide mich, die Kinder an die andere Schule zu bringen, weil mir die Vermittlung bestimmter Werte an dieser Schule so wichtig ist und sie mir mehr zusagt als die Schule bei uns in der Nachbarschaft“, fühlte er sich mit seinem Fahrdienst sehr versöhnt.
Sicher haben auch wir solche „Soll“ und „muss“ in unseren Alltag integriert. Ich muss früh aufstehen, ich soll die Ablage machen, ich muss diesen Brief noch schreiben, ich muss die Wäsche aufhängen, ich soll dieses Konzept noch zu Ende bringen…

Mit „muss“ und „soll“ liefern wir uns selbst vermeintlich fordernden „höheren“ Mächten aus und verdrängen dabei, dass wir in den allermeisten Fällen eine Wahl haben. Wenn wir uns auf unsere Entscheidungsfreiheit besinnen, gewinnen wir neue Kraft und können unsere Energie auf das verwenden, was wir von ganzem Herzen in unserem Leben tun möchten.

Heute will aufmerksam zur Kenntnis nehmen, wann ich annehme, etwas tun zu müssen oder tun zu sollen. Ich werde mich fragen, welches wundervolle Bedürfnis ich mir damit erfülle, wenn ich diesen Anforderungen nachkomme.

Familienbande

„Eine Familie, die leiblich und geistig vereint ist, gehört zu den seltenen Ausnahmen.“
Honoré de Balzac, „Une fille d’Eve“, 1838

Wohl keine Verbindung kann uns so sehr bereichern oder strapazieren wie die zu unseren Familienmitgliedern. Zwischen Eltern und Kindern kracht es gelegentlich ebenso heftig wie unter Geschwistern. Und das Fatale an der Sache: Es wird mit zunehmendem Alter nicht weniger. Vielleicht haben wir resigniert: „So ist Mutter halt…“ oder „das werden die Kinder nie lernen“. Denn wirklichen Frieden in der Familie müssen wir uns leider oft erst hart erarbeiten.

Marshall Rosenberg erzählt von einer jungen Frau, die in einer Einrichtung für Drogenabhängige arbeitete und eines Abends in Lebensgefahr geriet. Einer der Besucher bedrohte sie mit einem Messer, weil sie ihm kein Zimmer geben konnte. Dank der Gewaltfreien Kommunikation gelang es ihr, dem Mann so viel Empathie zu geben, dass er schließlich von ihr abließ. „Aber wenn dir das so gut gelingt, was willst du dann hier noch lernen?“, fragte Marshall Rosenberg die Frau. „Oh, jetzt wird es erst richtig schwierig“, meinte sie. „Jetzt möchte ich mit meiner Mutter zurecht kommen!“

Oft ist es so, dass wir bei Familienangehörigen keinen guten Schutz finden. Viele Aussagen, Blicke, Seufzer, Achselzucken, Schweigen gehen direkt an allen erworbenen Konfliktfähigkeiten vorbei ins Schwarze. Oder wir sind selbst in einer Situation, in der wir austeilen bevor wir uns darüber im Klaren sind, was eigentlich gerade bei uns los ist.

Was können wir tun, wenn uns der Frieden in der Familie so kostbar ist, aber nicht zu gelingen scheint?

Drei Dinge möchte ich von Herzen empfehlen:
Atmen, Selbstempathie und Zeit.
Bevor wir auf einen Satz, den wir schlecht hören können, reagieren, gibt es immer noch die Möglichkeit, drei Mal tief durchzuschnaufen. Dann folgt eine Frage, die uns viel Ärger ersparen kann: „Wie geht es mir, wenn ich das höre?“
Wenn wir uns bewusst werden, welche Bedürfnisse in uns gerade unerfüllt sind, wird es mit Sicherheit leichter, auf unser Gegenüber zu reagieren. Und schließlich dürfen wir uns Zeit nehmen um zu überprüfen, was wir jetzt brauchen. Ist ein Spaziergang angesagt oder eine Verständnisbitte? Benötigen wir eine Pause oder vielleicht eine Schulter zum Anlehnen? Erst wenn wir ganz bei uns angekommen sind, wird der Raum weit für die Verbindung zu unserem Nächsten.

Heute will ich aufmerksam verfolgen, wann die Aussagen meiner Familienmitglieder intensive Gefühle bei mir auslösen. Sie sind der Wegweiser zu meinen wunderbaren Bedürfnissen.

Sei selbstsüchtig (1)

7. Versprechen: Unsere Ich-Bezogenheit wird in den Hintergrund treten, das Interesse an unseren Mitmenschen wird wachsen.
Aus: Die 12 Versprechen der Anonymen Alkoholiker

Da lesen wir in dem Text zu den 12 Versprechen der Anonymen Alkoholiker (eine spirituelle Gemeinschaft), Unsere Ich-Bezogenheit wird in den Hintergrund treten, und darunter setze ich ein Video, in dem der Amerikaner Vagabond Steve dazu aufruft, selbstsüchtig zu sein. Wie passt das zusammen? Damit werden wir uns in zwei Tagesmeditationen beschäftigen.

Ich-Bezogenheit und „being selfish“ – nur unzureichend übersetzt mit „selbstsüchtig sein“ – bezeichnet in meinen Augen zwei sehr verschiedene Dinge.
Ich-Bezogenheit bedeutet für mich: Alles was um mich herum geschieht, beziehe ich auf mich.
Der Chef grüßt mich nicht? Ich habe einen Fehler gemacht. Die Freundin ruft nicht an? Sicher ist sie nicht mehr an mir interessiert. Der Partner grummelt? Vielleicht habe ich ihn verärgert. Was immer in unserem Leben geschieht – wir beziehen es auf uns.

Aus dieser Sicht auf die Welt kann sich eine Vielzahl von Problemen ergeben. Zum einen sind wir meist ständig besorgt, alles richtig zu machen, es dem anderen, allen anderen stets Recht zu machen, um der befürchteten Kritik zuvorzukommen.

Zum Zweiten sind wir aber auch irgendwo tief in unserem Inneresten überzeugt, dass wir es in der Hand haben, andere Menschen glücklich zu machen. Wenn sie uns nur ließen… wenn nur alles nach unserem Plan abliefe… wenn wir nur den Lauf der Welt kontrollieren könnten…

Die Vorstellung, wir seien für alles verantwortlich, an allem schuld, und letztendlich auch irgendwie in der Lage, alles zu richten, stammt aus frühen Kindertagen.
Wir erwerben sie aus Botschaften, die lauten: „Mami ist traurig, wenn du dein Zimmer nicht aufräumst“ oder „Oma kriegt einen Herzanfall, wenn du nicht lieb bist!“ Hier haben Erwachsene eine „Macht“ und Verantwortung in die Hände von Kindern gegeben, für die die Kinder in keiner Weise zuständig sind. „Ich bin <...>, weil du <...>

In der Gewaltfreien Kommunikation lernen wir, dass wir für die Gefühle der anderen nicht verantwortlich sind. Andere Menschen haben Gefühle, weil ihre Bedürfnisse erfüllt oder unerfüllt sind. Ich fühle <...>, weil ich <...>

Und dann ist der Chef vielleicht verärgert, weil kein Kaffee mehr da ist und damit sein Bedürfnis nach Entspannung und „Verpflegung“ nicht erfüllt ist. Die Freundin ruft nicht an, weil sie zu viel um die Ohren hat und keine Zeit findet, ausgiebig zu telefonieren, und der Partner grummelt, weil er müde ist und sein Bedürfnis nach Erholung und Ausgleich nicht erfüllt ist. Nichts davon hat etwas mit mir zu tun. Mit mir ist nichts falsch. Meine Ichbezogenheit wird in den Hintergrund treten und ich kann mich mit neuem Interesse an meinen Nächsten wenden: Wie geht es Dir? Was brauchst Du?

Heute will ich darauf achten, ob ich meine Welt auf mich beziehe. Wenn ich es tue, trete ich einen Schritt zurück und erinnere mich daran, dass ich für die Gefühle anderer Menschen nich verantwortlich bin.

Abschied vom Perfektionismus

Aus dem Versuch, perfekt zu sein, erwächst viel Schmerz. Perfektion ist unerreichbar, wenn wir sie nicht unter einem neuen Aspekt sehen: Perfekt zu sein, so zu sein, wie wir heute sind, und dort zu stehen, wo wir heute stehen; uns so zu akzeptieren und zu lieben wie wir sind. Wir sind genau an der richtigen Stelle, dort, wo wir in unserem Heilungsprozess sein müssen.
Melody Beattie, Kraft zum Loslassen

Der Blick in den Spiegel zeigt bei den meisten von uns: Perfekt ist etwas anderes. Ein Pickel auf der Wange, die Frisur könnte eine Überarbeitung vertragen. Cellulite an den Oberschenkeln, ein freundlicher Waschbärbauch. So geht die Prüfung weiter: Das Gespräch mit dem Kunden lief unglücklich, der Schreibtisch sieht aus, als hätte jemand eine Altpapiertonne darauf entleert. Die Blumen vertrocknet, das selbst gekochte Essen fad und unspektakulär. Ist es nicht faszinierend, wie viele Anlässe wir an nur einem einzigen Tag finden können, um uns niederzumachen?

„Wenn du dein Leben wirklich elend machen willst, vergleiche dich mit anderen“, schlägt Marshall Rosenberg im Scherz vor. Heidi Klum, Mutter von vier Kindern, hatte bereits wenige Wochen nach der letzten Niederkunft ihre Traumfigur zurück. Mozart schrieb schon im Alter von acht Jahren wunderbare Kompositionen und sprach mehrere Sprachen fließend. Und du schaffst es nicht mal, Bratkartoffeln vernünftig zu würzen…

Leider haben wir häufig an uns selbst Anforderungen, die ein normaler Mensch gar nicht erfüllen kann. Angefeuert werden wir dazu von einem inneren Antreiber, der von uns fordert: Sei perfekt! Zumeist haben wir diesen Antreiber bereits in unserer Kindheit kennen gelernt, als wir eine Botschaft vernommen haben, die da lautet:

du bist nur dann ok, wenn du alles richtig machst.

Kindheit im vorigen Jahrhundert

Wer von diesem Antreiber befeuert wird, will immer alles sehr gründlich machen. Auch an andere stellt er in der Regel hohe Anforderungen. Aufgaben werden oft übererfüllt, Perfektion steht ohne Rücksicht auf Kosten oder Zeitaufwand an erster Stelle. Anerkennung gibt es nur für absolut fehlerfreie Leistung. Und: Wenn eine Leistung nicht perfekt ist, fühlen sich die Verursacher oft unter Rechtfertigungszwang.

Wenn wir uns an solchen überdimensionalen Maßstäben messen, kann es leicht passieren, dass wir uns selbst immer wieder für unzureichend halten oder uns weit über unsere Kräfte zu Leistungen zwingen.

Doch wie können wir diesem inneren Antreiber den Stellenwert einräumen, der ihm zusteht, uns aber nicht von Perfektionismus terrorisieren lassen?

Zum Glück gibt es einen Persönlichkeitsanteil, der hier eine andere Komponente unseres Seins vertritt: Unseren Erlauber. Er steht für die Botschaften:

So wie du bist, bist du gut genug
Du darfst Fehler machen
Du darfst mit anderen nachsichtig sein, wenn sie Fehler machen
Du brauchst dich nicht ständig zu rechtfertigen

Zusammen mit einigen anderen Werkzeugen können uns diese neuen Glaubenssätze im Laufe der Zeit zu einer neuen Sicht auf die Welt verhelfen. Wir müssen sicht perfekt sein. Wir sind liebenswert, auch wenn wir Fehler machen!

Heute will ich aufmerksam beobachten, ob mein Perfektionismus sich zu Wort meldet. Ich werde mir vergegenwärtigen, dass er mein Bestes im Sinn hat und mir dann ins Gedächtnis rufen, dass ich auch liebenswert bin, wenn ich Fehler mache.

Das Schweigen der Unbewussten

„Es ist die Verantwortung von allen, die in Freiheit leben, ihre Meinung zu äußern. Immer!“ -Morgan Freeman, Stern Nr. 36/2008 vom 28. August 2008, S. 144

Wir leben in einem Rechtsstaat, das Recht auf freie Meinungsäußerung ist im Grundgesetz verbrieft. Eine schöne Theorie, denn tagtäglich gibt es Situationen, in denen wir eben nicht unsere Meinung äußern.

Manchmal kriegt man kein Wort heraus

Der Chef bezieht ständig den Kollegen, aber nicht mich ein. Spreche ich ihn darauf an? Der junge Mann neben mir in der U-Bahn, dessen MP3-Player so laut dröhnt, dass ich mich kaum auf meine Zeitung konzentrieren kann – kriege ich die Zähne auseinander? Der Freund, der sich Monate nicht meldet – mache ich meinem Frust Luft? Die Partnerin, die schon das dritte Mal hintereinander keine Luft auf Sex hat – gebe ich zu erkennen, wie es mir damit geht?

In vielen Alltagssituationen entscheiden wir uns bewusst dafür, von unserem verbrieften Recht auf freie Meinungsäußerung keinen Gebrauch zu haben. Wir fürchten Nachteile, Spannungen, Liebesentzug, Aufkündigung der Freundschaft, eisiges Schweigen oder gar Gewalt.

Wenn wir mit Giraffenohren unterwegs sind, fällt es uns meist leichter zu formulieren, was uns am Herzen liegt. Wenn es uns schon oft gelungen ist, Probleme anzusprechen und gewaltfrei zu lösen, gehen wir bestimmt entspannter in ein solches Gespräch.

Was brauchen wir, damit wir von ganzem Herzen bereit sind, uns offen für unsere Belange einzusetzen? Sicherheit, Klarheit, Verbindung und vielleicht noch manche mehr. Doch eines braucht es an erster Stelle: Ein Bewusstsein dafür, dass dass wir gerade schweigen, statt für uns einzutreten.


Heute will ich meinen Blick auf die Situationen richten, in denen ich nicht für mich einstehe. Ich will überprüfen, was ich brauche, um meinen Standpunkt zu vertreten.

Zwei Aktivisten

<...> Bisher habe ich auch nur über den inneren Richter gesprochen. Es gibt noch einen zweiten sehr wichtigen Teil in uns, ich nenne ihn den inneren Entscheider. In diesem Fall müssen wir mit dem inneren Entscheider sprechen. Er ist derjenige, der dafür sorgt, in jedem einzelnen Moment, dass unser Leben erfüllt und schön ist. Er hat den Auftrag, uns zu nähren und für uns zu sorgen.

Marshall B. Rosenberg, Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, S. 37

In der Welt der Gewaltfreien Kommunikation lernen wir, dass wir keine Fehler machen. Wir verhalten und so gut, sinnstiftend, verantwortlich, wie es uns gerade möglich ist. In den meisten Fällen kommt jedoch nach einer Handlung der Innere Richter und verteilt die Haltungsnoten für das, was er von unserem Verhalten gesehen hat. Dabei kann es passieren, dass der Richter den Nutzen dessen, was unser innerer Entscheider für richtig gehalten hat, nicht besonders hoch einschätzt, um es mal vorsichtig zu formulieren.

Das ist der Moment, in dem wir uns ins Gedächtnis rufen wollen, dass beide, Entscheider und Richter, wirklich nur unser Bestes wollen. Beide gehören in das gleiche Team, unser Wohlergehen ist ihr oberstes Ziel.

Wenn sich herausstellt, dass es zwei verschiedene Meinungen gibt über das, was unserem Besten dient, entsteht daraus jedoch kein Richtig oder Falsch. Der Entscheider, der die sündhaft teuren Schuhe oder den exquisiten Golfschläger eingekauft hat, der entschied, noch schnell die Sportübertragung zu Ende zu schauen, bevor er die Omi anruft (und dann ist es auf einmal zu spät, um noch anzurufen), tat es aus wunderbaren Gründen. Er entschied eben genau so und nicht anders, um uns eines oder mehrere unserer Bedürfnisse zu erfüllen. Und dabei konnte es passieren, dass andere Bedürfnisse, zum Beispiel nach sorgsamem Umgang mit unseren (finanziellen) Ressourcen oder das Bedürfnis nach Verbindung (zur Omi) zu kurz gekommen sind. Jetzt ist es Zeit, unserem Entscheider und unserem inneren Richter Einfühlung zu geben und zu überprüfen, ob sie für mich eine wunderbare Lektion auf Lager haben, aus denen ich lernen kann, beim nächsten Mal möglichst alle meine Bedürfnisse zu befriedigen.

Ich habe mich selbst lange wegen einer Handlung gequält, die ich in einer bestimmten Situation unternommen habe, und die ich 15 Jahre lang zutiefst bereut habe. Als ich in der Lage war, meinem Richter und meinem Entscheider von Herzen Einfühlung zu geben, war ich in der Lage, mir selbst zu verzeihen.

Heute will ich dafür aufmerksam werden, wann mein Entscheider eingreift und wie mein Richter diese Entscheidungen kommentiert.

Mit Angst vor Liebesentzug umgehen

„Die Quelle der Angst liegt in der Zukunft, und wer von der Zukunft befreit ist, hat nichts zu befürchten.“ – Milan Kundera, Die Langsamkeit

Heute wollen wir ein wenig dem Phänomen der Angst vor Liebesentzug nachspüren. Angst ist ein mächtiges Gefühl, das uns lähmen, aber auch beflügeln kann. Und oft hat unsere Angst etwas mit unseren Erinnerungen, unserer Vergangenheit und unseren unerfüllten Bedürfnissen zu tun.

Vielleicht haben wir als Kinder zu oft gehört: Sei nicht so laut! Sei nicht so frech! Sei artig! Das tut man nicht! Wenn diese Sätze auch noch verbunden waren mit Strafe, Liebesentzug, Schweigen, bösen Blicken, fällt es uns heute schwer so zu sein wie wir sind. Wir nehmen uns zurück, wir halten Situationen aus, die uns nicht gut tun, wir schweigen, wo wir besser reden sollten. Und nicht selten sind wir unverbunden mit unseren Bedürfnissen. Die vor langer Zeit eingebaute Angst verstellt wie ein großer Schrankkoffer den Blick auf das, was ist.

Uns für unsere eigenen Belange einzusetzen, fühlt sich schwer und falsch an. Vielleicht brauchen wir einen neuen Ansatz. Wozu dient unsere Angst?
Unsere Angst will uns schützen, unsere Angst will uns vor einem Fehler bewahren. Unsere Angst kann aber auch verhindern, dass wir unsere Stärken erkennen. Doch häufig verstellt unsere Angst wie der schon erwähnte Schrankkoffer den Blick auf die Bedürfnisse, die im Hintergrund schlummern: Das Bedürfnis nach Autonomie, nach Leichtigkeit, nach Verbindung, nach Authentizität oder Integrität. Unsere Angst in Beziehungen kann dazu führen, dass wir den Blick auf das was ist, erst neu lernen müssen.

Es gibt ein Zaubermittel für den Umgang mit unserer Angst. Dieses Zaubermittel heißt: Realitätsüberprüfung. Was sind die Fakten? Ist es real, dass der gute Freund sich nicht mehr mit uns treffen wird, wenn wir ihm zeigen, dass wir uns in ihn verliebt haben? Wird der Partner die Beziehung beenden, wenn wir im Schlafzimmer nein sagen zu Experimenten, die uns keine Freude bereiten? Wird die Tochter sich nicht mehr melden, wenn wir die monatlichen Zahlungen reduzieren? Wie realistisch ist es, dass unsere Befürchtungen eintreffen?

Und nehmen wir einmal an, all unsere schlimmsten Befürchtungen würden wahr. Der gute Freund ist an Treffen nicht mehr interessiert. War er dann ein guter Freund? Der Partner beendet die Beziehung, weil ihm das Ausleben seiner erotischen Wünsche eine hohe Priorität ist. Gewinnen wir damit nicht unsere Integrität, Leichtigkeit und Kongruenz (in Übereinstimmung mit den eigenen Werten leben) zurück und haben die Freiheit, einen Partner zu finden, mit dem ich meine Werte leben kann? Wenn ich meiner Tochter nichts mehr gebe, braucht sie sie nicht mehr verpflichtet zu fühlen und dagegen aufzubegehren – kann all das nicht der Beginn einer wunderbaren aufrichtigen Beziehung zwischen zwei Menschen sein?

Angst in Beziehungen hält uns in einem wabernden Zustand der Unsicherheit. Was wird? Was kommt? Je mehr wir diese Angst loslassen, desto näher rücken wir an uns heran. Wir lernen uns selbst zu vertrauen und für unsere Belange einzutreten.

Heute bin ich bereit, meine Angst in Beziehungen freundlich anzusehen. Welchen Bedürfnissen gebe ich noch keinen Raum, weil meine Angst den Blick auf sie verstellt?

„Rückfälle“

Die ersten 30 Jahre sind die schwersten
Marshall Rosenberg

Da haben wir ein Seminar besucht oder eine Jahresgruppe absolviert. Wir waren vielleicht sogar bei einem internationalen Intensivtraining und dann sagt jemand, der uns nahe steht: „Also, meine Schuld ist das nicht, da musst du schon mal bei dir gucken…“
Der Satz ist austauschbar, und jeder von uns wird Sätze haben, bei denen all unser Wissen über Gewaltfreie Kommunikation auf einmal wie weggewischt ist und wir wie ein Dinosaurier mit unserem Uralt-Muster reagieren: Das musst du gerade sagen! Hast du nicht erst neulich… oder vielleicht auch: Oh ja, du hast recht, da habe ich wieder Mist gebaut…

Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich die Wolfsohren regenerieren, wenn man nicht ganz genau aufpasst. Und hier wartet auch schon die nächste Falle. Viele von uns neigen dazu, uns dann so richtig schön fertig zu machen für unsere „Unfähigkeit“, nicht gewaltfrei bleiben zu können.

Drei Aspekte möchte ich heute betrachten. zum einen: Warum kann ich (bisher) in bestimmten Situationen nicht gewaltfrei bleiben?
Wir mögen uns noch so sehr um die Haltung bemühen, es gibt Menschen, die uns mühelos erreichen und unser Wissen über die GfK steht uns augenblicklich nicht zur Verfügung. Oft sind es Menschen, die uns besonders nahe stehen: Die Mutter, der Partner, das eigene Kind. Wir reagieren dann so, als hätten wir ne etwas von GfK gehört. Und diese Reaktionen sind nicht selten begleitet von intensiven Gefühlen, Wut, Schmerz oder Scham.
Ich glaube, dass uns manche Äußerungen in einen Zustand versetzen, in denen wir so viel Schmerz empfinden, dass dieses intensive Gefühl uns das Tor zur Gewaltfreien Kommunikation für einen Augenblick versperren. Es dauert eine Weile, bis wir in der Lage sind, in solchen schwierigen Situationen Sätze zu formulieren wie: Danke, dass du mir mitteilst, wie es gerade in dir aussieht oder vielleicht das kann ich jetzt schwer hören. Ich gehe mal eben um den Blick und sage dann etwas dazu… Ich hatte gerade den Gedanken, dass ein Steinzeitprogramm zugeschaltet wird, und etwas in uns glaubt, blitzschnell auf höchste Gefahr reagieren zu müssen. Und dann greift das Gehirn auf Altes zurück, denn es dauert ein paar Jahre, bis die GfK sich in unserer neuronalen Vernetzung im Gehirn eine eigene Autobahn „gegraben“ hat. Und bei Gefahr oder unter Stress ist man halt schneller auf der Vorkriegs-Autobahn von Richtig oder Falsch, Schuld und Scham, als auf dem frischen Trampelpfad der Gewaltfreien Kommunikation.

Mein zweiter Gedanke gilt unserer Reaktion auf unsere Handlungen oder Aussagen. Nicht wenige von uns neigen jetzt dazu, sich jetzt so richtig von Herzen fertig zu machen. Jetzt habe ich schon 20 Trainingstage hinter mir, zwei mal das Buch gelesen und alle CD’s gehört, und ich krieg’s noch immer nicht auf die Reihe. Irgendwas ist falsch mit mir… Gern genommen wird auch: Also, im Ernstfall taugt diese GfK ja nichts.

Schon dieser Blick zeigt, wo wir hier landen: Bei den vier Ohren der Gewaltfreien Kommunikation. Wir bewegen uns erneut in einer Welt von Richtig oder Falsch. Und je nach Blickrichtung sind wir der Täter oder unser Gegenüber. Ich kenne für diese Situation nur ein Heilmittel: Empathie. Im Zweifelsfall: Selbstempathie.

Zum dritten möchte ich die Geschenke aus dem „Rückfall“ ernten.
Schon das Wort Rückfall ist ja im Grunde eine Bewertung. Ich bin ja kein entlassener Strafgefangener, der wieder Kekse klaut im Kosmos von Richtig oder Falsch. Ich habe es trotzdem als Überschrift gewählt, weil es die Bezeichnung ist, die wir oft wählen, wenn unser Verhalten nicht mit unseren GfK-Werten übereinstimmt. Wie können wir nun aus diesem Verhalten Geschenke ernten?
Lasst uns noch einmal die Ausgangssituation betrachten: Unser Gegenüber sagt einen Satz, oder eine Reihe von Sätzen, die in uns eine Kaskade an Gefühlen auslösen. Schmerz, Wut, Hilflosigkeit, Trauer. Unser altes Reaktionsmuster verhindert in diesem Augenblick, dass wir ganz bei uns sein können, auf uns selber hören als lauschten wir dem Klang eines Cellos.

Doch niemand hindert uns, an diese Stelle zurückzukehren und wie Rotkäppchen mit dem Körbchen die Pilze einzusammeln, die hier wachsen. Was habe ich gehört? Was hat der andere wirklich gesagt? Welche Gefühle hat das in mir ausgelöst? Und welche Bedürfnisse waren in dem Augenblick unerfüllt? Respekt? Wertschätzung? Autonomie? Gesehen werden?
Wenn wir bereit sind, uns selber zuzuhören, finden wir nicht nur ein tiefes Verständnis für uns selbst, sondern sehr wahrscheinlich auch die Tür, durch die wir uns dem anderen wieder nähern können.

Heute will ich liebevoll mit mir umgehen, wenn mir die Giraffensprache gerade nicht zur Verfügung steht.

Vertrauen

„Menschen, die einander ohne tatsächlich klaren Grund nicht trauen, trauen sich selber nicht.“
Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. 40. Gesamt-Auflage. Stuttgart und Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt, 1908. S. 505.

Ist es nicht ein wunderbarer Anblick, wenn ein Baby in den Armen des Vaters schläft? Wen berührt es nicht, wenn ein Kind voller Vertrauen und Stolz der Mutter das Bild zeigt, das es gemalt hat? Es hat eine Zeit gegeben, in der wir alle Vertrauen hatten.

Doch dann mussten wir lernen, dass es nicht angebracht ist, immer zu vertrauen. Wir lernten, dass wir auf unseren Schutz achten mussten. Manche von uns wurden aufgrund ihrer Erfahrungen so misstrauisch, dass sie niemandem mehr glauben konnten und ein Verhalten einübten, das ihnen die größtmögliche Sicherheit versprach.

Am schwersten haben wir zu kämpfen, wenn wir kein Vertrauen in uns selbst haben. „Wann wirst du aus diesem Fehler endlich lernen?“ oder „das hast du noch nie hingekriegt, das geht diesmal bestimmt auch wieder schief“ – Es ist schwer, dann innezuhalten und uns voller Wärme zu fragen:

Was brauchst du, um dir selbst vertrauen zu können?

Vielleicht hilft uns das Verständnis, dass wir alles was wir tun, in jeder Minute so gut machen, wie es in unserer Macht, in unserer Kraft steht. Unsere Entscheidungen treffen wir mit all dem Wissen, das uns zur Verfügung steht. Und wenn wir uns für eine Handlung oder Unterlassung entscheiden, tun wir das Beste, was wir gerade zur Verfügung haben. Wenn unsere Anstrengungen nicht zum Erfolg führen, ist das mehr ein Anlass für Einfühlung als für Kritik und Selbstabwertung.

Was geht uns unter die Haut? Vielleicht schaffen wir es immer besser, die Äußerungen anderer Menschen als das zu hören, was sie sind: Selbstoffenbarungen. Und dann spüren wir keine Verletzung mehr. Heute wollen wir lernen, auch unsere eigenen Äußerungen über uns neu wahrzunehmen: Als ein Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses.

Heute will ich daran arbeiten, mir selber zu vertrauen. Alles was ich tue, mache ich so gut es mir möglich ist.

Wenn ich höre…

„Der Anfang des rechten Lebens ist das rechte Hören.“
Plutarch, Moralia, Über das Zuhören, Kapitel 18

Der erste Schritt in der Gewaltfreien Kommunikation ist das Zuhören. Wir benutzen oft die Formulierung: „Wenn ich höre…“, wenn wir noch ganz am Anfang sind, giraffisch zu lernen. Aber was hören wir eigentlich? Der Kommunikationsforscher und Psychologe Friedemann Schulz von Thun hat in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Kommunikationsmodell erarbeitet, das uns heute hilft zu sortieren, was wir hören. Er schlägt vor, dass wir mit vier Ohren unterwegs sind und beschreibt, dass eine Nachricht vier verschiedene Ebenen hat:

  1. eine Sachinformation (worüber ich informiere)
  2. eine Selbstkundgabe (was ich von mir zu erkennen gebe)
  3. einen Beziehungshinweis (was ich von dir halte und wie ich zu dir stehe)
  4. einen Appell (was ich bei dir erreichen möchte)

Wenn wir einen ganz einfachen Satz nehmen:

Deine schmutzigen Socken liegen auf dem Küchentisch
können wir relativ sicher sein, dass unser Gegenüber,  BesitzerIn der Socken, eine Menge Dinge „hört“. Die „gefühlte“ Langfassung würde vielleicht lauten:

1. Deine Socken liegen auf dem Tisch.

2. Ich bin ärgerlich und finde es total unappetitlich, wenn die Socken da liegen!

3. Wer dreckige Socken auf dem Tisch liegen lässt, ist irgendwie asozial

4. Räum die Dinger verdammt schnell zur Waschmaschine!

Es sind nur sieben Worte, und sie können für so viel Sprengstoff sorgen!

Nun wissen wir ja, dass es in der Gewaltfreien Kommunikation darum geht, unsere Beobachtung so neutral anzubringen als sei sie von einer Kamera aufgezeichnet worden. Eine Kamera, auch nicht die teuerste, würde sich im Leben nicht über ein Paar Socken auf dem Tisch aufregen. Aber warum regen wir uns über die Socken auf dem Küchentisch auf? Es hilft, wenn wir das für uns selber geklärt haben, bevor wir den Mund aufmachen.

Der Anblick der Socken kann bei uns ein Feuerwerk an Gefühlen auslösen. Hurra! Dann wissen wir, dass wir noch leben! Sind wir frustriert, weil wir diese Woche schon fünf Mal die Socken selber weggeräumt haben und uns Unterstützung wichtig ist? Sind wir ernüchtert, weil uns Wertschätzung fehlt? Geht es uns um Ordnung, und sind wir lustlos, weil wir als einzige bestimmte Vorstellungen von System und Struktur haben? Oder sind wir genervt, weil es uns um Selbstständigkeit geht?

Die Chancen, dass unser Gegenüber eine Menge hört, aber nicht unbedingt etwas Friedliches, sind leider sehr groß. Und damit wächst auch die Gefahr, dass unser Gegenüber unsere Botschaft auf dem „Kritikohr“ hört. Mit dir ist etwas falsch! Und dann sind wir nicht bei einer Brücke der Verständigung, sondern in den meisten Fällen in einem unerfreulichen Kreislauf aus Anklagen, Verteidigungen und Selbstabwertung.

Wir machen es unserem Gegenüber leichter, die Botschaft zu hören, wenn wir selber wissen, welches Bedürfnis bei uns unerfüllt ist, und ihm das auch mitteilen. Wenn wir bereit sind, all unsere Bedürfnisse zu uns zu nehmen, öffnen wir den Weg neu zu einem gegenseitigen Geben und Nehmen. Denn dann hat unser Gegenüber die Chance zu hören: Ich spüre einen großen Schmerz, weil bei mir ein wichtiges Bedürfnis unerfüllt ist…

Heute will ich mein Augenmerk auf die vier Ebenen meiner Botschaften richten. Es ist mir wichtig, dass mein Gegenüber weder Abwertung noch Forderungen hört, sondern eine Bitte um Verbindung. .

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Ein Augenblick der Geduld kann vor großem Unheil bewahren, ein Augenblick der Ungeduld ein ganzes Leben zerstören. Das die Vögel der Sorge und Kummer übers Haupte fliegen, kannst du nicht ändern. Aber das sie Nester in deinen Haaren bauen, das kannst du verhindern.
Chinesisches Sprichwort

Gelegentlich kommt es uns vor, als seien wir in einer Sackgasse gelandet. Die Partnerschaft zerbrochen, die Karrierechancen trüb, ein neuer Job nicht in Sicht. Schmerz, Kummer, Ratlosigkeit, Enttäuschung halten uns fest im Griff.

Auch in solchen Situationen ist es unsere ureigene Entscheidung, wohin wir unseren Blick richten wollen. Schauen wir auf den Mangel, auf das was uns fehlt? Auf die Geliebte, die gegangen ist, die öden Tage im Büro, die Absagen im Briefkasten?
Lassen wir es zu, dass die Vögel der Sorge in unseren Haaren Nester bauen? Oder sind wir bereit, auf unseren Reichtum zu schauen und unsere Fähigkeit wertzuschätzen, unsere Welt neu zu gestalten?
Was können wir tun, wenn unsere Welt dunkel und lieblos zu sein scheint?

Wir können uns an unseren Ressourcen orientieren.

Was macht mich froh? Wann fühle ich mich sicher? Wo erlebe ich Geborgenheit? Was bietet mir Schutz? Wenn wir uns unsere Ressourcen ins Bewusstsein rufen, ist es nur noch ein kleiner Schritt, sie zu aktivieren, zum Telefon zu greifen, einen Freund zu kontaktieren, sich in die heiße Badewanne zu legen, eine CD aufzulegen, die unsere Stimmung hebt.

Was können wir tun, wenn sich kein Ausweg zeigt?

Wir können uns an unseren Bedürfnissen orientieren.
Was brauche ich? Was tut mir gut? Was kann ich tun, um Autonomie, Leichtigkeit, Selbstständigkeit, Beteiligung und Unterstützung in mein Leben zu bringen?

Wir können diese Fragen durcharbeiten und werden Antworten finden.
Die Antworten bringen uns mit unserer Kraft in Verbindung. Die Kraft wird es uns ermöglichen, unserem Leben eine neue Wendung zu geben.

Heute will ich mich darauf besinnen, was mir gut tut und was mich stärkt.

Verantwortung übernehmen

Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. In dem Maße, wie er sein eigenes Leben bestimmt, ist er auch für die Folgen seines Tuns verantwortlich. Jean-Paul Satre schrieb dazu: „Alles, was mir zustößt, ist meins“.
Der Spiegel 9/2010, aus einem Bericht über den Rücktritt von Bischöfin Käßmann

Alles, was mir zustößt, ist meins. Was für eine ungeheuerliche Behauptung. Wenn ich daran festhalte, kann ich niemandem die Schuld für meine Gefühle geben. Meine Wut gehört mir, mein Schmerz, meine Verzweiflung. Gleichzeitig ist es eine Einladung, durch das Tor aus Schuld und Scham in die Welt der Freiheit zu gehen.

Wenn Schuld und Scham keine Rolle mehr spielen, wenn ich dem Urteil anderer entzogen bin und mich meiner wahren Verantwortung stelle, dann
sind nicht nur andere nicht mehr „schuld“ an meinem Unglück, an meinem Frust und meinem Schmerz. Ich bin auch von der Last befreit, an ihrem
Unglück, ihrem Schmerz Schuld zu sein. Alles, was mir zustößt, ist meins.

Ich kann meins nehmen, es ansehen, hineinspüren, eine Chance zum Wachsen finden. Ich kann auch im Groll verharren, die Verantwortung für mein
Leben ablehnen, mit dem Finger auf den anderen zeigen: Du hast mich so verletzt! Warum gibst du mir nicht, was ich brauche? Was du versprochen
hast…

Hier beginnt unsere Verantwortung für uns selbst. Alles, was mir zustößt, ist meins.
Und ich ergreife die Chance, zu wachsen, zu lernen und die Macht über mein eigenes Leben zu genießen.

Heute will ich meine Augen dafür offen halten, wo ich dazu neige, anderen die Verantwortung für das einzuräumen, was mir zustößt. Ich bin
bereit, es als meins zu mir zu nehmen.

Giraffen-Inquisition

„Die Zensur ist die schändlichere von zwei Schwestern. Die ältere heißt Inquisition. Die Zensur ist das lebendige Eingeständnis der Herrschenden, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.“
Johann Nepomuk Nestroy, Freiheit in Krähwinkel

Es gibt Fans der Gewaltfreien Kommunikation, die zugleich Mitglieder der Giraffen-Inquisition sind. „Warum hast du jetzt dies gesagt?“ „Welches Bedürfnis erfüllst du dir damit?“ „Ist das jetzt wirklich giraffisch, was du da sagst?“ „Höre ich da einen Wolf?“

Die anderen Giraffen antworten meist folgsam, irritiert, unbehaglich, vielleicht nervös oder genervt. Wir wollen glauben, dass die Inquisitoren ihrem Bedürfnis nach Beitragen Ausdruck geben, dass sie uns unterstützen wollen. Doch nicht selten hinterlässt so eine Frage einen bitteren Beigeschmack und bietet den Wölfen eine ungeschützte Flanke, in die sie ihre Zähne schlagen können: „Oh, ich mach das (noch immer) nicht richtig…“
Eine solche Inquisitions-Giraffe trägt um ihren Hals ein unsichtbares Schild. Je nach Blickrichtung stehen ganz unterschiedliche Sätze auf diesem Plakat. Wir können lesen: „Ich möchte dich gern unterstützen“ oder „mir ist es wichtig, dass die GfK wirklich in alle Herzen kommt“. Wölfe buchstabieren auf diesen Schildern Sätze wie „ich erklär dir mal die Welt, du GfK-Idiot“, oder „Solche Trottel wie du müssten erst mal einen Kurs machen, bevor sie sich als Giraffen versuchen können…“ Ein Oberwolf mag gar die Angst verspüren, der andere gebärde sich als das ranghöhere Tier…
Wie können wir mit diesen Inquisitions-Giraffen umgehen? Wie so oft heißt das Zaubermittel Empathie. „Bist du besorgt, weil du gern sicher gehen möchtest, dass sich alle Beteiligten in Frieden auf etwas einigen können?“ „Möchtest du dazu beitragen, dass dieser Konflikt gelöst wird?“

Manchmal fehlt uns die Kraft, auf diese Weise zu reagieren. Dann können wir beherzt zu einem anderen Satz greifen: Welches Bedürfnis erfüllst du dir mit dieser Frage?!
Und schon sind wir auf dem Weg zur Brücke der Verständigung.

Heute will ich Mitgliedern der Giraffen-Inquisition meine besondere Aufmerksamkeit schenken. Das gilt erst recht, wenn ich selbst eine eingebaute Giraffen-Polizei habe, die zu inquisitorischen Fragen neigt…

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