Wie kannst Du es wagen…
Hallo, Welt!
Heute Mittag sah ich jemanden in der Kantine sitzen, der einem Bekannten sehr ähnlich ist. Schon vorige Woche war mir der Mann aufgefallen, fast hätte ich mich zu ihm gesetzt, aber in letzter Minute erkannte ich meinen Irrtum und schwankte mit meinem Tablett an einen anderen Tisch.
Heute hatten wir Blickkontakt und zuerst dachte ich wieder, Mensch, da sitzt doch Dr. XY. Aber nein… der gleiche fremde Mann wie im letzten Jahr.
Heute habe ich es gewagt, mich zu ihm zu setzen und hatte eine interessante Unterhaltung. Er hat mit meiner Profession (und der von Dr. XY) überhaupt nichts am Hut und kommt einfach als externer Gast in die Kantine. Während unseres anregenden Gesprächs dachte ich bei mir, „ist doch gut, dass du dich getraut hast, dich zu jemand Fremden zu setzen.“
Beim Nachspüren ging mir auf, dass ich damit zurzeit ganz offensichtlich ein Thema habe: How dare you! Wie kannst du es wagen…
http://youtu.be/AAb-Y6pB07Y
(Achtung, da passiert nichts, das ist nur die Musik von dem alten 10CC-Album aus den 70er Jahren.)
Also: ich setze mich zu einem fremden Menschen an den Tisch. Ich richte mir einen Do-Nothing-Raum ein, der überhaupt nicht aussieht wie ein Wohnzimmer. Ich wage etwas! Gestern habe ich gewagt, einem Freund am Telefon zu sagen, du bist mir ganz wichtig und unsere Freundschaft hat einen ganz großen Stellenwert für mich, und trotzdem bin ich gerade zu erschöpft, um mit Dir zu reden. Boah! Geradezu tollkühn! Meine Teilnahme am GfK-Netzwerktreffen kommenden Samstag werde ich absagen, weil ich am Sonntag einen wichtigen Termin habe und sonst überhaupt keine Pause bekomme. How dare you! Wie kannst du es wagen…
Und was hat das mit GfK zu tun?
Gerhard Rothhaupt stellt seine Jahresgruppe unter das Motto: „Abenteuer Ehrlichkeit“. Und tatsächlich ist es ein Abenteuer, sich auf Ehrlichkeit einzulassen. Nicht dass mir ständig Lügen aus dem Mund perlen. Aber um mein Bedürfnis nach Schutz und Harmonie zu befriedigen, sage ich oft nicht wirklich, was ich brauche. Und weil es in meinem Kopf noch immer einen Haufen Bilder davon gibt, wie Dinge zu sein haben, finde ich es unendlich schwer herauszufinden, was für MICH passt. „Das tut man nicht“ ist eines der Brandzeichen auf meiner Kehrseite, geprägt in fetter Fraktur.
Wohnzeitschriften informieren, wie „man“ sich einzurichten hat, Modepostillen und Versandhaus-Kataloge zeigen, wie eine Frau auszusehen hat, welche Figur sie haben darf, wie sie sich in akzeptabler Form ver- oder enthüllt. Hat einer von Euch schon mal ein am Menschen fotografiertes Nachthemd in Kleidergröße 48 gesehen, in einem Katalog, einer Modezeitschrift? So haben Menschen nicht zu sein! Die normative Kraft von Bildern hat mich in den vergangenen Tagen ziemlich erschreckt. Mir war gar nicht bewusst, wie sehr mich diese Fotos prägen.
Oliver Heuler sagte in seinem Fernsehbeitrag etwas über Kindererziehung. Es ist ihm (sinngemäß) ein Anliegen, seinen Sohn nicht in eine vorgefertigte Form zu pressen oder so zu ziehen und zu zerren, bis er seinen Vorstellungen entspricht. Im Nachgang habe ich gemerkt, dass ich genau das tue. Ich drücke und schiebe mich in irgendwelche Formen, von denen ich ohne Bewusstsein annehme, so müsste ich sein, aussehen, mich entscheiden, mich äußern, wohnen… Und über allem wacht die eingebaute Geschmackspolizei, mein ganz privater Sicherheitsdienst.
Ich glaube, 2012 möchte ich anfangen, Dinge zu wagen. Ich möchte zunächst einmal merken, wo ich nicht authentisch bin. Uuuuiiih, ich denke doch, dass ich authentisch bin! Aber noch nicht immer…
Ich will mich zeigen. Ich will mich zumuten. Ich will mich näher kennen lernen.
Leute, das ist sehr wahrscheinlich der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte.
Was wagt Ihr in 2012?
Los, verratet es mir 😉
So long!
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