Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Die Bitte um Einfühlung

„Jeder wahre Lehrer, jeder Arzt, jeder Therapeut, aber auch jeder Seelsorger kennt den eigentümlichen Sprung, der sich in seiner Beziehung zu dem ihm aufgegebenen Menschen vollzieht in dem Augenblick, in dem er nicht anders kann, als sich dem anderen gegenüber selbst zu öffnen und nun durch sein Amtskleid hindurch als der ganze Mensch hervortritt und so dem anderen als er selbst begegnet. Bei allen Gefahren, die damit verbunden sind – er weiß und spürt es: Erst jetzt erreicht er den anderen wirklich von Person zu Person.“ – Karlfried Graf Dürckheim, Vom doppelten Ursprung des Menschen

Vor einiger Zeit plagten mich arge Zahnschmerzen. Es stellte sich heraus, dass ein Backenzahn gezogen werden musste. Ich zitterte mich morgens in die Praxis, fürchtete die Schmerzen und die Geräusche beim Herausreißen des Zahns.

Meinen Zahnarzt kenne ich nun schon 27 Jahre und ich mag ihn sehr gern. An diesem Morgen kam er ins Behandlungszimmer und erzählte einen seiner üblichen Kalauer. Mir war nicht zum Scherzen zumute und ich antwortete: „Ich habe Angst!“
Irritiert entgegnete mein Zahnarzt: „Aber ich mach das doch nicht zum ersten Mal… “

Ich war gleichzeitig ärgerlich und musste trotzdem lachen. Wolfsohren innen, Wolfsohren außen… Es schien ganz so, als habe mein Zahnarzt meine Angst als Misstrauensvotum aufgefasst. „Sie können das nicht!“ Dabei hatte ich mit meiner Äußerung auf eine ganz andere Reaktion gehofft. Ich hatte mir Einfühlung gewünscht.

Heute wird mir noch einmal ganz deutlich, dass es leider meist nicht so einfach funktioniert. Von meiner Seite aus gab es keine klare Bitte, die mein Zahnarzt hätte erfüllen können. Wie hätte diese Bitte aussehen können? Vielleicht dass ich mich rückversichere, ob unsere alte Vereinbarung noch gilt, dass er sofort aufhört, wenn ich ein Handzeichen gebe. Oder dass er mir noch einmal in Ruhe erklärt, was er tun wird. Ich bin aufgefordert zu überlegen, wie er zu meiner Beruhigung oder Entlastung beitragen kann. Woher soll er wissen, was ich in diesem Moment brauche?

Trotzdem habe ich mir von vielen Ärzten bisher vergebens mehr Einfühlung erhofft. Ob beim Mammografie-Screening oder beim Internisten: Ich möchte gesehen werden, Ernst genommen, ich wünsche mir Klarheit, Verständnis, Verbindung, Ehrlichkeit und Beteiligung. Ich bekomme bestimmt leichter, was ich mir wünsche, wenn ich bereit bin, konkrete Bitten zu formulieren.

Heute will ich mir bewusst werden, dass andere Menschen nur selten meine Gedanken lesen können und es daher hilfreich ist, wenn ich klare Bitten formuliere.

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