Der sagenhafte Löwe
Ein Mann, verwundert über das Gerücht von einem sagenhaften Löwen, hatte sich von weither aufgemacht, um ihn zu sehen. Ein Jahr lang hatte er die Beschwernisse und Mühen der Reise auf sich genommen. Als er zu dem Wald kam, in dem sich der Löwe aufhielt und ihn aus der Ferne wahrnahm, vermochte er keinen Schritt weiter zu setzen. Man sagte ihm: „Du bist so weit gereist, um dem Löwen zu begegnen, der dem Unerschrockenen, der ihn mit Zärtlichkeit streichelt, ein Haar krümmt, aber den der Verzagte und Ängstliche ergrimmt, weil ihm Argwohn unwürdig erscheint. Sei beherzt und gehe zu ihm.“ Aber der Mann hatte nicht den Mut, einen Schritt weiter zu setzen. Zwar hatte er viele Schritte getan, die leicht gewesen waren, doch vor dem wichtigsten Schritt hatte er versagt: dem gegenüber der Wahrheit.
Aus: Jalalauddin Rumi, Die Sonne von Tabris – Sufi-Gedichte, Darmstadt 2005, S. 62