Sei nicht nett, sei ehrlich…
„Alle Menschen werden ehrlich geboren und sterben als Betrüger.“
Luc de Vauvenargues, Réflexions et maximes
Gibt es Aufruhr unter Euch wegen dieses Zitats? Ich weiß nichts über den Verfasser, aber seine Worte sprangen mich sofort an. Vielen von uns fällt es schwer, ehrlich zu sein oder mit Ehrlichkeit umzugehen. Zwei Beispiele dazu.
Eine Kollegin von mir bat eine Spezialistin um eine Stellungnahme. Die Spezialistin fragte nach, in welchem Umfang sie antworten solle und ob es eine Vergütung gäbe. Als sie erfuhr, dass kein Honorar fließen würde, antwortete sie per Mail: ich habe genug zu tun und kann meine Freizeit auch anders verbringen.
Im Kollegenkreis löste diese Antwort heftige Gefühle aus. Die Wölfe jaulten: Unverschämt! Rücksichtslos! Frechheit!
Also waren offensichtlich die Bedürfnisse nach Rücksicht (vielleicht so etwas wie Einbezogen sein), nach Verbindung und nach Unterstützung im Mangel.
[ich gebe zu, ich habe innerlich über die Antwort gejubelt, sie erfüllte mein Bedürfnis nach Klarheit und Ehrlichkeit. Und! Die Expertin drückte etwas aus, was ich mich oft nicht traue].
Im zweiten Beispiel hatte eine Frau nach dem Verlust eines Familienagehörigen gesagt, nun müssten aber alle an einem Strang ziehen, um die Witwe zu unterstützen. Es könne nicht angehen, dass XY sich allein um sie kümmern müsse/solle. Alle anderen hätten ja schließlich auch ein eigenes Leben. das müsse man XY auch zubilligen.
Diese Aussage führte zu einem großen Zerwürfnis. Die Familienmitglieder kontnen die Worte nicht gut hören. In meinen Ohren klingt es „nur“ klar und ehrlich.
Was führt also dazu, dass wir nicht ehrlich sind, und was führt dazu, dass wir mit der Ehrlichkeit anderer manchmal so schwer umgehen können?
Ich vermute, dass Ehrlichkeit immer dann besonders schwer zu hören ist, wenn beim Empfänger mehrere Faktoren ins Spiel kommen.
1. Er fühlt sich bewertet
2. Es kommt keine (Herzens-) Verbindung zwischen Sprecher und Empfänger zustande.
3. Der Empfänger hört eine Forderung oder eine Drohung mit einem empfindlichen Übel
Im Fall der Familienauseinandersetzung waren die betroffenen Angehörigen vermutlich so mit ihrem Schmerz und ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt, dass sie die Sorge des Sprechers nicht wahrnehmen konnten. Ich vermute, die Angehörigen fühlten sich in ihrem Tun bewertet.
Vielleicht haben sie auch gehört, „das muss jetzt so und so gemacht werden, sonst… “ , also kam bei ihnen eine Forderung an.
Im Fall mit der Spezialistin lag es wohl an der fehlenden Verbindung. „Kann ich Sie irgendwie anders unterstützen? Vielleicht würde Kollege VY Ihnen weiter helfen?“ Wenn wir merken, dass unser Gegenüber unsere Belange genau so wichtig nimmt wie seine eigenen, können wir auch eine offene Absage besser verkraften.
Was brauchen wir selbst in einer Beziehung, um ehrlich zu sein?
Es ist die Gewissheit, dass die Verbindung nicht leidet, wenn wir uns für unsere eigenen Belange eintreten.
Heute will ich mir vor Augen halten, dass ich nicht verantwortlich bin für das, was andere hören, sondern für das, was ich sage. Ich möchte mich daran erinnern, dass es mir um Verbindung geht, und nicht um Recht haben.