Von Tätern und Opfern
„Täter haben meistens eine längere Lebenserwartung als Opfer und es macht mehr Spaß, Täter als Opfer zu sein.“
Henryk M. Broder, Jüdische Allgemeine, 17. März 2005, S. 3, Freispruch für Israel (Artikel zum gleichnamigen Buch von Alan Derschowitz)
In den vergangenen Tagen stolperte ich immer wieder über das Thema „Opfer sein, zum Opfer gemacht werden“. Mir ist unbehaglich dabei. Opfer sein macht uns klein und hilflos, wir sind einer Macht, größer als wir selbst, ausgeliefert, und diese Macht will uns nichts Gutes.
Ich will und werde – trotz des Zitats von Henryk M. Broder – keine Diskussion über Völkermord und Massenvernichtung anfangen. Mein Verstand ist zu klein, um zu erfassen, was im Dritten Reich passiert ist und was noch heute in vielen Ländern der Erde passiert. Ich möchte stattdessen über meine eigene Opferhaltung nachdenken und in welcher Weise ich diese Haltung auch bei anderen Menschen wieder erkenne.
Ich arbeite seit vielen Jahren in der gleichen Firma. Wie in vielen anderen Unternehmen ist auch hier in den vergangenen Jahren umstrukturiert und rationalisiert worden. Und lange lebte ich in der Opferhaltung. Oh, mein Arbeitsplatz ist nicht sicher… Wer weiß, wann sie mich kündigen… Mein Leben ist nicht planbar, ich habe Angst…
Mein Leben ist seither nicht einen Deut sicherer geworden, noch immer werden jedes Quartal Menschen entlassen. Aber meine Einstellung hat sich geändert und seither habe ich eine Menge Probleme weniger. Es fühlt sich an, als hätte ich Vertrauen zum Leben gefunden. Gelegentlich überfällt mich noch immer die Angst, aber ich habe inzwischen Werkzeuge gefunden, um leichter damit umzugehen.
Aussagen wie „ich werde gemobbt“ oder „der versucht mich zu manipulieren“ oder „ich werde ausgegrenzt“ oder „die haben mich im Stich gelassen“ sind Anzeichen dafür, dass wir uns als Opfer sehen. Wir erleben uns als hilflos, ohnmächtig, verzweifelt, orientierungslos, angstvoll oder bewegungsunfähig. All diese Gedanken haben eines gemeinsam: es gibt Gute und Schlechte, und die anderen sind die Schlechten, denn sie tun oder unterlassen etwas, was bei uns großen Schmerz auslöst.
Ich erlebe es als kühnen Schritt von mir selbst, mich aus diesem Opferdenken zu verabschieden. Ich stelle mir vor, ich hätte zunächst nur einen Ausschnitt eines riesigen Gemäldes gesehen. In meinem Fokus war der Teil zu sehen, auf dem ich vermeintlich zum Opfer gemacht wurde. Doch nun ändert sich die Perspektive. Ich stehe keineswegs im Mittelpunkt von Mobbing, Aussortieren, Ablehnung und Ausgrenzung. Vielmehr kann ich erkennen, dass all meine „Mitspieler“ auf dem großen Gemälde mit sich beschäftigt sind. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse und ihre eigenen Strategien, um sie sich zu erfüllen. Es kann schon sein, dass ich irgendwann vom Rand kippe. Aber dann nicht deshalb, weil mich jemand auf dem Kieker hat, weil ich jemandem oder einer Welle zum Opfer falle, sondern weil Dinge so sind, wie sie sind. Was für eine himmlische Freiheit sich mir durch die neue Blickrichtung eröffnet! Ich bin kein Opfer mehr. Und ich muss mein Gegenüber nicht mehr als Täter entmenschlichen, sondern darf ihn mit all seinen wundervollen Bedürfnissen wahrnehmen.
Heute öffne ich meinen Blick für die Freiheit, die mir zuteil wird, wenn ich die Opferrolle hinter mir lasse.
„Mein Leben ist seither nicht einen Deut sicherer geworden, noch immer werden jedes Quartal Menschen entlassen. Aber meine Einstellung hat sich geändert und seither habe ich eine Menge Probleme weniger. Es fühlt sich an, als hätte ich Vertrauen zum Leben gefunden.“
Diese Sätze von dir spiegeln genau das, was ich neulich über Verlässlichkeit geschrieben habe, genau das meine ich! Ich freue mich zu sehen, dass wir im Kern einer Meinung sind 🙂
Ich drück dich von hier!
Markus