Bedürfnisse, die oben liegen
„Die schönste Harmonie entsteht durch Zusammenbringen der Gegensätze.“
Heraklit, Fragmente, B 8
Heute sprach ich mit einem Freund über seine Bedürfnisse. Wir fanden heraus, dass ihm Harmonie so wichtig war, dass andere Bedürfnisse dafür bei ihm in den Hintergrund traten. Autonomie zum Beispiel scheint ein Bedürfnis zu sein, dass der Harmonie im Wege steht. Wenn einer etwas unternimmt oder plant, was der andere nicht gutheißt, kann die schöne Harmonie in der Partnerschaft schnell am Ende sein.
Doch was geschieht, wenn wir wieder und wieder unsere Bedürfnisse nach Autonomie, Selbstausdruck, Authentizität, Ehrlichkeit und Echtheit unter dem Deckel halten, um die Harmonie nicht zu gefährden?
Wie bei einem Baumkuchen oder bei den Jahresringen einer dicken Eiche können wir meist nur die oberste Schicht unserer Bedürfnisse sehen. Vielleicht liegt unter unserem tiefen Bedürfnis nach Harmonie ja eigentlich das Bedürfnis nach Verbindung. Vielleicht geht es gar nicht um Harmonie, sondern um das Vertrauen, dass ich auch dann noch geliebt werde, wenn ich eine abweichende Meinung vertrete.Vielleicht fürchte ich, Nähe und Sexualität zu verlieren, wenn ich mich nicht an die Regeln halte. Vielleicht geht es mir um Leichtigkeit, weil ich einfach keine Lust habe, ein Thema wieder und wieder durchzukauen…
Es lohnt sich, einen Blick unter das zuoberst liegende Bedürfnis zu werfen. Denn die Bedürfnisse, die zugunsten eines anderen unterdrückt werden, sind ja deshalb nicht verschwunden. Vielleicht gärt es längst in uns, vielleicht rotten sich die Wölfe zusammen, vielleicht gibt es eines Tages gar keine Beziehung mehr, weil sie in Harmonie erstickt ist und nun nur noch leblos über dem Sofa hängt.
Wenn wir herausfinden, welche weiteren Bedürfnisse in uns lebendig sind, können wir einen Weg finden, dass alle erfüllt werden. Vielleicht nicht alle zur gleichen Zeit. Vielleicht müssen wir erst den Bedürfnissen Aufmerksamkeit schenken, die oben liegen. Doch danach ist es an der Zeit zu fragen:
was brauche ich jetzt, um wirklich glücklich zu sein?
Heute wil ich es wagen, all meine Bedürfnisse willkommen zu heißen.