Die üblichen Verdächtigen
„Der Grundsatz, nach dem ich entscheide ist: Die Schuld ist immer zweifellos“
Franz Kafka, In der Strafkolonie, 1916. In: Gesammelte Werke: Erzählungen, Hg. Max Brod. Fischer Taschenbuch Verlag 1983, S. 156
Sonntag wollte ich das Auto aus der Garage holen und meine Freundin aus ihrem Wagen ein paar andere Schuhe holen. „Am Schlüsselbrett hängt ein Haustürschlüssel am blauen Band, den kannst du nehmen und dich wieder reinlassen,“ sagte ich zu ihr. Doch als wir beide vor dem Schlüsselbrett standen, war da keiner mit einem blauen Band, sondern nur ein Briefkastenschlüssel am schwarzen Band.
Sofort fing mein Hirn an zu galoppieren. Wer hat zuletzt den Schlüssel benutzt? Hing er nicht eben noch da? Hatte ich ihn nicht gerade noch gesehen? Aber die Schlüssel, die ich in der Hand hatte, waren der Autoschlüssel an einem ebenfalls blauen Band und mein eigener an einem roten Band. Wer hatte den Schlüssel zuletzt gehabt und nicht wieder angehängt?
Gleich fielen mir mehrere Sünder ein: Der Heizungsmonteur hatte doch vorige Woche…
Die Freunde, die kürzlich wieder hier gewohnt hatten – hatten die ihn etwa eingesteckt?
Mein alter Freund, der neulich über Nacht zu Besuch war – der hatte bestimmt….
Oder mein Sohn? Hatte er irgendwas abgeholt und meinen Ersatzschlüssel mitgenommen?
Ich marschierte los und holte den Ersatzschlüssel vom Ersatzschlüssel und drückte ihn der Freundin in die Hand. Dann suchte ich in meiner Daunenweste nach einem Taschentuch – und fand in der rechten Außentasche den Haustürschlüssel am blauen Band. Ich hatte ihn selber gerade eingesteckt, in Gedanken, oder vielleicht weil ich ihn meiner Freundin in die Hand drücken wollte. Und als ich ihn nicht fand, sprang sofort die Maschine an, dass ja jemand schuld sein müsse, wenn der Schlüssel nicht an seinem Platz war.
Wenn mein Kopf auf den „Schuld“-Modus schaltet, ist es ein Anzeichen dafür, dass ich in der alten Welt von Richtig oder Falsch verhaftet bin. Ich kann mich daraus lösen, indem ich sorgsam beobachte, was ist.
Heute bin ich bereit zu beobachten ohne zu urteilen.
Meine spontane Reaktion wäre der Wolf nach innen gewesen: „Wo hab ich den bloß wieder verbummelt? Dass ich aber auch *immer* so schlampig sein muss, etc. pp.“ Im Moment fällt mir keine passende Strategie ein, wie ich mein unerfülltes Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung sich in solch einem Moment etwas „abreagieren“ kann. Ich stelle mir gerade schmunzelnd vor, wie ich in meiner Wohnung stehe und folgenden Giraffenschrei von mir gebe „Verdammte Sch… ich bin jetzt wirklich frustriert! Ich hätte wirklich gerne etwas mehr Ordnung!“ Wenn niemand da ist, um den Schrei zu hören, ist das wenig befriedigend.
Moin, Gabriel!
Ich bin ja ein großer Fan von Wolf Innen. In mir wohnt geradezu ein hyperaktives Rudel. Diese besondere Spezies von Wolf außen, die ich aber in diesem konkreten Fall am Start hatte, sind die Opferwölfe. Irgendjemand hat mir was angetan und ich bin das arme Hascherl, was jetzt hilflos davor steht. Der Fokus ist also nicht wirklich darauf gerichtet, dass der andere falsch ist, sondern dass ich die arme Wurst bin, ausgeliefert, nicht gesehen, hilflos. Das hat für mich noch einen anderen Beigeschmack als das beliebte „du Arsch hast meinen Schlüssel mitgenommen“, nämlich ein „mit mir kann man es ja machen, ich bin es ja auch nicht wert, dass andere sich an Absprachen halten…“
Echt, mir wird ganz übel, wenn ich mich mit dieser Energie verbinde. Vielleicht sollte ich noch mal den Tipping vorholen? Aber ich habe voriges Mal schon so lange gebraucht, bis ich mich da durchgeackert hatte. Das entspricht gerade nicht meinem Bedürfnis nach Leichtigkeit und Entspannung.
So long!
Ysabelle