Die normative Kraft…
„Viele Ausdauersportler sind Vegetarier, sie lehnen sogar das Sitzfleisch ab.“
Gerhard Uhlenbruck, Weit Verbreitetes kurzgefasst, Ralf Reglin Verlag Köln, Ausgabe 2002, 28. März 2003, ISBN 3-930620-40-5
Gestern war ich das erste Mal seit Juli im Sportstudio. Auslöser war ein Anruf in der vorigen Woche, in der ich gefragt wurde, ob ich noch Interesse an einem Schließfach hätte. Dieser Anruf erfüllte mir einige wunderbare Bedürfnisse. Zugehörigkeit, Beteiligung, Wertschätzung, Unterstützung und Leichtigkeit fallen mir spontan ein. In Anbetracht meines dezenten Muskelkaters heute habe ich mich gefragt, welche wundervollen Bedürfnisse ich mir in den vergangenen Monaten erfüllt habe, als ich nicht zum Sport gegangen bin. Leichtigkeit fällt mir als erstes ein. Ich brauchte nicht die Sporttasche mit zur Arbeit zu schleppen. Ruhe. Ich war abends oft so erschöpft, und hatte ja auch einen Kessel zu füllen, dass die Kraft einfach nicht reichte. Häufig ging es auch um Verbindung. Ich war mit jemandem zum Telefonieren oder Skypen verabredet und das wird schwierig, wenn ich erst um 22.15 Uhr nach Hause komme. Ich realisiere aber auch, dass ich mir selbst die Zeit für den Sport nicht zugestanden habe. Alles eine Frage der Priorisierung.
Je öfter ich hintereinander zum Sport gehe, desto attraktiver wird es zu gehen. Ich finde wieder Kontakt zu den Trainerinnen und anderen Fitness-Enthusiasten, ich genieße die Sauna und den Workout, meine Energie durch die größere Fitness, meine angenehme Müdigkeit nach dem Training und das Abfliessen von Spannung und Aggressionen. Je länger ich nicht hingehe, desto attraktiver wird es, nicht zu gehen. Die Leute werden mir fremd, alles scheint umständlicher, ich habe doch auch zu Hause genug zu tun. Heute bin ich eh so schlapp…
Um die Jahrhundertwende formulierte der österreichische Staatsrechtler Georg Jellinek die These von der „normativen Kraft des Faktischen“. Durch das „Faktische“, so Jellinek, werde aufgrund von Stabilitätsüberlegungen die „Norm“ der Realität angepasst. Da der Fakt ist, dass ich immer wieder nicht gehe, wird daraus eine Norm. Ist es Fakt, dass ich regelmäßig gehe, wird daraus eine Norm. Die Moral von der Geschicht: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Heute will ich etwas machen, das mir gut tut. Wenn ich heute daran Freude finde, werde ich es wiederholen.