Es denkt
„Alles Denken ist unmoralisch. Sein eigentliches Wesen ist Zerstörung. Wenn Sie über etwas nachdenken, töten Sie es.“ –
Oscar Wilde, 3. Akt / Lord Illingworth
In den vergangenen Tagen habe ich Wortfetzen gesammelt, die mich zum Teil stundenlang beschäftigt haben. So hörte ich eine Frau sagen: Das bin ich meiner Schwester schuldig! Eine andere Frau hatte ein Hilfsangebot, das sie nicht akzeptieren wollte und begründete ihre Ablehnung mit: ich nehme keine Almosen! Und heute hörte ich einen Mann sagen: Und dann liege ich neben ihr im Bett und fühle mich ungeliebt, wenn sie nicht mit mir schlafen will. Da dachte ich bei mir: Es denkt!
Den Begriff „es denkt“ habe ich von Harald Reinhardt und Robert Betz abgelauscht. Und für mich bedeutet diese Formel: In mir sind Urteile lebendig, die mir etwas über mich und mein in-der-Welt-sein verraten. Zum Beispiel die Frau, die ihrer Schwester etwas schuldig zu sein meint. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie aus fröhlichem Herzen gibt. Vielmehr erledigt sie eine Ver-pflicht-ung, etwas von dem sie glaubt, dass sie es tun muss.
Oder die Frau, die keine Almosen annehmen möchte. Sie braucht Hilfe, ist bedürftig. Aber sie kann die angebotene Hilfe nicht annehmen, weil es in ihr denkt.
Auch der Mann, dessen Partnerin gerade keinen Sex möchte, hat einen Denker bei der Arbeit. Alle drei Menschen sind verstrickt in ihre Bilder von der Welt, die mit dem, was ist, nur wenig zu tun haben.
Gibt es eine Verpflichtung, eine Schuldigkeit, der Schwester zu helfen? Wer schafft sie? Wer entscheidet, wann es „genug“ geholfen ist? Ist das Anbieten einer Hilfeleistung ein Almosen, wenn der eigentliche Wunsch ein anderer ist? Ich wünsche mir, dass du mich einmal die Woche unterstützt. Du bist bereit, es einmal zu tun. Einmal nehme ich nicht, das ist ein Almosen… Es denkt…! Und der Mann, der sich nach Verbindung, Nähe, Zärtlichkeit sehnt, und dann zu dem Schluss kommt, ich fühle mich ungeliebt – welche Gefühle mögen in ihm lebendig sein, wenn er denkt, er sei ungeliebt? Ist er einsam, traurig, irritiert, besorgt und frustriert?
„Es denkt“ kann unser Leben mit einem giftigen Schleim überziehen. Doch es gibt ein Gegengift, dass aus dem Schleim ein wunderbares Gleitmittel macht. Sein Name: Bewusstheit. Wenn ich mir bewusst werde, dass es in mir denkt, kann ich mich von meinen Urteilen und vermeintlichen Gefühlen dis-identifizieren. „Ist das interessant, was es da in mir denkt!“ lautet die Zauberformel. Und dann werden die Gedanken zu Wegweisern zu meinen Bedürfnissen. Und wir gleiten hinein in einen Prozess, in dem unsere Bedürfnisse genau so zählen wie die der anderen.
Heute richte ich meine Aufmerksamkeit auf den Vorgang, wenn es in mir denkt.