Zugfahrt
„Freie Bahn für alle Tüchtigen, das sei unsere Losung.“
Theobald von Bethmann Hollweg, Reichstagsrede vom 28. September 1916, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 1871-1918, Band 302, S. 1694
Von meinem Dorf in Schleswig-Holstein fahre ich morgens mit dem Zug in die große Stadt. Zurzeit gibt es im Verlauf der Strecke größere Baumaßnahmen, die zur Folge haben, dass unser Abschnitt mit Fahrzeugen bedient wird, deren Typ man früher Schienenbus nannte. Zwischendurch fahren ein paar 30 Jahre alte Regionalbahnen. „Das ist ein schöner Zug“, sagte heute ein Dauerfahrgast, der wegen des besseren Komforts vom „Schienenbus“ in den alten roten DB-Zug wechselte. Ich antwortete, „aber nur bis E.“, denn dort steigen immer sehr viele Passagiere zu und es wird voll. „Stimmt!“, sagte mein Mitreisender. „Da steigen immer die Rabauken ein!“
Fast hätte ich zurückgefragt, was für ihn einen Rabauken ausmacht. Dann lag mir auf der Zunge, „Ihnen ist Respekt wirklich wichtig, oder?“ und dann beschloss ich, ein wenig über unterschiedliche Wahrnehmungen zu sinnieren. Meine Wahrnehmung ist, dass in E. oft zehn oder mehr Menschen in unser Abteil einsteigen. Das geschieht nicht geräuschlos. Dann lesen manche Zeitung, andere holen ihren Laptop aus der Tasche, rufen ihre Mails ab, telefonieren, dritte dösen, hören Musik oder sehen aus dem Fenster.
Was nimmt mein Mitreisender wahr, dass er sich von Rabauken umgeben wähnt? Ich vermute, es liegt daran, dass die neu Zugestiegenen nicht grüßen. Außerdem nehmen sie oft keinen Blickkontakt auf mit denen, die schon im Abteil sitzen. Vielleicht ist es auch der veränderte Geräuschpegel, der dadurch entsteht, dass plötzlich 20 statt fünf Menschen in einem Abteil sitzen. Ich vermute, das Urteil „Rabauken“ entsteht, wenn wichtige Bedürfnisse unerfüllt sind oder bleiben. Es ist eine Einladung, uns für ihre Erfüllung einzusetzen.
Heute will ich meinen Urteilen nachspüren. Welches unerfüllte Bedürfnis kann ich dahinter erkennen?