Ein Platz in der Rangordnung
„Wer aufgrund seines Reichtums und seiner Ehrenstellung einen höheren Rang einnimmt, ist nicht groß. Warum erscheint er aber als groß? Weil man ihn mit dem Sockel misst.“
Seneca d.J., Moralische Briefe an Lucilius (Epistulae morales ad Lucilium), IX, LXXVI, 31
Heute habe ich mein Schuhputzzeug durchsortiert und dann 90 Minuten lang zwei Drittel meiner Schuhe geputzt. Es war eine wunderbar meditative Zeit und ich habe es genossen, mit der Bürste über das Leder zu striegeln und mich am Glanz zu erfreuen. Früher hat mein Großvater Samstagnachmittags die Schuhe der ganzen Familie geputzt, und es war eine wichtige und anerkannte Arbeit. Wir waren dankbar, wenn er unsere verhuntzten Stiefel mit Muskelkraft und Schuhcreme wieder in einen tragfähigen Zustand versetzte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich vor vielen Jahren mal meinen Sohn bat, für mich ein paar Schuhe zu putzen. Er wähnte sich dadurch komplett degradiert und schimpfte, „nur weil ich der Kleinste bin und mich nicht wehren kann, muss ich diese Dreckarbeit machen…“
Viele von uns leben mit einer imaginären Rangordnung. Wir sortieren Dinge nach Wichtigkeit, ordnen Vorgänge und Bedürfnisse ein. Marshall Rosenberg sagt, wir können uns immer nur zuerst um die oben liegenden Bedürfnisse kümmern. Erst wenn wir keinen Hunger mehr haben oder – ganz banal – auf dem Klo gewesen sind, können wir uns zum Beispiel um Verbindung, Kreativität oder Spiritualität kümmern. Diese Reihenfolge ist quasi natürlich vorgegeben. Aber anderen Dingen verleihen wir Wertigkeiten. Damit ist nichts falsch, solange wir sie nicht dazu benutzen, uns selbst abzuwerten.
Vor ein paar Jahren haben meine Eltern aus gesundheitlichen Gründen das Autofahren aufgegeben. Zu dieser Zeit hatten sie einen sehr schönen Audi mit großartiger Ausstattung. Irgendwann erzählten sie am Telefon, sie hätten den Wagen im Bekanntenkreis verkauft. Ich war tief getroffen. Hätten sie mich nicht wenigstens fragen können, ob ich den Wagen kaufen wolle? War ich so unwichtig, dass sie mich gar nicht auf dem Zettel hatten? Das Gleiche wiederholte sich noch zwei Mal mit sehr schönen Möbeln. Erst als ich mit der GfK in engeren Kontakt kam, konnte ich sehen, dass ihre Handlungen nichts mit meinem Wert zu tun hatten. Sie haben sich mit der Schenkung der Möbel im Bekanntenkreis ein paar wundervolle Bedürfnisse erfüllt. Und das hatte gar nichts mit mir zu tun.
Beim Nachspüren darüber, wann ich was wert bin, fiel mir ein früherer Freund ein, der ein leidenschaftlicher Motorradfahrer war. Ich habe Angst vor dem Motorradfahren, gönnte ihm seine Touren aber von Herzen. In unserer Anfangszeit fand er das wunderbar und sagte, „es ist so schön, dass du mir das gönnen kannst!“ Gegen Ende der Partnerschaft wurde dann aus „gönnen“ Desinteresse. Du interessierst dich nicht für mich und für das, was ich tue…
Wir nutzen die Informationen, die wir in Beziehungen erhalten, um daraus unseren imaginären Platz in der Werteskala zu errechnen. Der Kollege wird befördert und ich nicht? Jetzt ist meine Stellung bedroht. Die Nachbarn bekommen die Möbel geschenkt und ich nicht? Meinen Eltern bin ich nicht wichtig. Er fährt ohne sie in den Wintersport, weil sie keine Lust zum Skilaufen hat – und schon ergibt sich daraus die Beziehungsfrage: Bin ich dir überhaupt wichtig?
Gestern und heute habe ich viel über diese Rangordnung nachgedacht. Der eine übernimmt als Familienoberhaupt die wichtige Arbeit des Schuheputzens. Der andere fühlt einen Schmerz, wenn er Schuhe putzen soll, weil er denkt, es degradiere ihn… und in beiden Fällen geht es doch nur darum, ein paar Schuhe zu putzen…
Was kann ein Maßstab für meine persönliche Rangordnung im Umgang mit Menschen sein? Ist es mein dickes Auto mit eingebauter Vorfahrt? Die Kohle auf dem Konto, die mir das Recht gibt, von anderen etwas zu erwarten, denn schließlich bezahle ich sie ja auch dafür? Wie ordne ich mich ein in einem sozialen Gefüge? Bin ich Top oder bin ich Flop?
Beim Schuheputzen ist mir klar geworden, dass ich einfach nur bin. Ich stürze nicht ab, wenn mein Kollege befördert wird. Ich bin nicht unwichtig, nur weil mein Sohn sich vier Wochen nicht meldet. Mein Wert als Mensch ist inhärent, er ist mir angeboren. Mich einzuordnen in die gefühlte Rangordnung des anderen dient nur dazu, mir selbst Schmerzen zuzufügen. Es denkt in mir, dies sei mein Status, wenn ich die Schuhe putzen muss oder nicht mit in den Skiurlaub fahren kann. Ich quäle mich selbst, wenn ich glaube, mein Platz in der Rangordnung hänge von irgendetwas ab, was ein anderer tut oder unterlässt.
Heute will ich mein Augenmerk darauf richten, wonach ich meinen Wert bemesse. Wenn ich ihn von anderen abhängig mache, will ich mir ins Gedächtnis rufen, dass mein Wert damit nichts zu tun hat. Als geliebtes Kind einer höheren Macht bin ich mit einem natürlichen Wert ausgestattet, der nicht von anderen abhängt.
„Als geliebtes Kind einer höheren Macht bin ich mit einem natürlichen Wert ausgestattet, der nicht von anderen abhängt.“
Vielen Dank für diesen Satz, den rahme ich in meinem Herzen ein und will jeden Tag drauf schauen!
Daran will ich mich auf dem Weg ins Bett auch gerade erinnern…
Y.