Dankbarkeit: Über das Wachstum
„Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns.“
Johann Wolfgang von Goethe, Zum Shakespears Tag
Gestern geriet ich in eine Diskussion zum Thema Treue in der Partnerschaft. Dabei hörte ich Sätze wie „wenn mein Partner fremd geht, denke ich, ich bin nicht gut genug für ihn“. Dabei merkte ich, dass ich noch vor einigen Jahren ähnliche Vorstellungen hatte. Etwas stimmt nicht mit mir, wenn sich mein Gegenüber in bestimmter Weise verhält. Das kann mein Chef sein, meine Mutter. die Frau an der Supermarktkasse. Und tief in meinem Inneren gab es eine Resonanz dazu: Du verdienst es auch nicht besser. Mit dir stimmt erwas nicht. Wärest du nur besser, klüger, engagierter, kompromissbereiter, verständnisvoller, hilfsbereiter, dann würden dich die Leute auch anders wahrnehmen, behandeln, zu schätzen wissen. Die eingebaute Botschaft lautete über Jahrzehnte: So wie du bist bist du nicht gut genug.
Als die Beteiligten gestern über Treue diskutierten, merkte ich auf einmal, dass sich etwas in meinem Inneren verändert hat. Ob mein Partner treu ist oder nicht hat nichts mit mir und meinem Wert zu tun. Ob meine Mutter verstimmt ist, weil sie ein anderes Verhalten, eine andere Reaktion erwartet hat, hat nichts mit mir zu tun. Ich bin sehr vielleicht der Auslöser, aber mit mir ist nichts falsch und ich muss in keinem Moment anders sein als ich bin. So wie ich bin, bin ich richtig.
Allzu oft und allzu schnell war ich immer bereit, meinen Wert in Frage zu stellen. Manchmal genügte eine hochgezogene Augenbraue. Alles Verhalten meines Gegenübers bezog ich auf mich. Das waren schmerzhafte Allmachts-Fantasien: Wenn ich mich nur hier und da anders verhielte, dann würde doch mein Chef… meine Familie… mein Partner… Es war die Vorstellung, wenn ich nur anders sei, würde sich alles andere um mich herum auch neu verhalten…
Dieser Gedanke – er stimmt und er stimmt nicht. Er stimmt auf andere Weise als ich es jahrzehntelang gedacht habe. Ich hatte immer geglaubt, ich sei SCHULD, wenn etwas nicht funktionierte. Und würde ich mich selbst nur so verbessern, dass Dinge anders liefen, dann bräuchte ich auch nicht mehr schuld zu sein. Eine schmerzhafte Ichbezogenheit. Das Ergebnis waren nicht selten Kontrolle und Manipulation.
Inzwischen habe ich angefangen, mich anders zu verhalten. Mein Blick richtet sich nach innen: Wie geht es mir, was brauche ich?! Ich übernehme Verantwortung für mich und meine Handlungen. Und ich akzeptiere die Verantwortung anderer für ihre Handlungen. In dem Maße, in dem ich die Verantwortung für das Handeln anderer loslassen kann, gewinne ich innere Freiheit und den Reichtum, mich wahrhaftig mit anderen zu verbinden, ohne sie zu entmündigen.
Einige Menschen in meinem Umfeld tun sich schwer mit dieser neuen Haltung. Diese Art von Verbindung ist ihnen fremd und seltsam. Das Instrument „du bist schuld…“ greift nicht mehr. Was nun? Damit ist ihnen ein Werkzeug genommen, mit dem sie so viele Jahre selbstverständlich gearbeitet haben. Ein Werkzeug mit zwei Köpfen: Du bist schuld und ich bin schuld. Einer dieser Köpfe passte immer. Und plötzlich gibt es keine Passung mehr für diesen Schlüssel.
Welch ein Wachstum, was für eine Veränderung! Ich spüre Ehrfurcht und Dankbarkeit für das, was alles möglich ist, wenn wir bereit sind, Urteile über uns und andere aufzugeben. Auf einmal sind alle Menschen so, wie sie von einer höheren Macht gewollt sind: Wertvoll und frei.
Heute will ich über nichts, was geschieht, urteilen. Vor allem will ich nichts und niemandem die Schuld an etwas geben.