Dankbarkeit: Stimmen
Hallo, Welt!
Es gibt einen blöden Witz, den ich bei Gelegenheit gern anbringe. Wenn ich im Kaufhaus unterwegs bin und über die Lautsprecheranlage Ansagen komme, jaule ich auf und sage, oh, ich höre wieder Stimmen…
Kann man nur machen, wenn man mit jemandem unterwegs ist, der Sinn für solche Späße hat.
Inzwischen ist mir natürlich klar, dass ich ständig solche Stimmen in meinem Kopf höre. 22000 Stunden elterliche Erziehung sind kein Pappenstiel. Die Zahl hab ich mal irgendwo aufgeschnappt und finde sie beeindruckend. Die Richtlinien der Erziehung sind also in Form von Stimmen eingebaut. Tu dies nicht und mach das!
Im Rahmen einer Erziehung, in der Kinder formal die Macht über Erwachsene gegeben wird, entsteht eine sehr ungute Geschiebelage. Durch Aussagen wie „du machst Mutti ganz traurig“ oder „jetzt hat Oma wieder Herzschmerzen, weil du böse warst“ entsteht in Kindern der Glaube, sie seien SCHULD, wenn andere bestimmte Gefühle entwickeln. GfK-Basiswissen: Ich bin nicht schuld, ich bin Auslöser.
Intellektuell zu verdauen, dass ich nicht schuld bin, ist eine Sache. Es zu verinnerlichen, gegen 22000 Stunden Erziehung anzuarbeiten, eine ganz andere. Ich erinnere mich noch, wie lange es gedauert hat, bis ich das erste Mal daran gekommen bin, warum ich nicht „nein“ sagen darf, mich nicht gegen den Willen eines anderen auflehnen: „Dann stirbt Oma“. Das war die Stimme, die eingebaut war. Ich wusste nicht mal, was sie sagte. Ich wusste nur, wenn ein anderer was will, habe ich nicht das Recht, nein zu sagen. Die Stimme war also nicht mal hörbar, sie lag quasi unter Putz.
Inziwschen habe ich zu meinen Stimmen meist einen ganz guten Kontakt. Ich pflege sie und ich begrüße sie mit Freuden. Manchmal sind es ganze Wolfschöre, die da ein Musikfestival feiern. Gern führen sie das konzertante Stück „Du bist scheisse – ich bin scheisse“ auf, bei dem die Wolfsohren in rasendem Tempo von innen nach außen wechseln. Aber immer öfter melden sich eben auch Giraffen mit einem freundlichen „was brauchst du?“ oder mit dem beliebten „was braucht der andere gerade“. Seit einiger Zeit ist eine weitere Stimme dazu gekommen, die mir besondere Freude bereitet. Es ist die Synchronstimme von Byron Katie. Ich finde das Hörbuch auf deutsch ziemlich schrecklich. Aber wenn ich tagsüber zwischendurch „Byron Katies Stimme“ fragen höre, „ist das wirklich wahr?“, bin ich schwer begeistert. Erstaunlich, mit welcher Vielzahl von Glaubenssätzen man doch so unterwegs ist, und wie viel Schaden diese ollen Ansagen auslösen können…
Heute waren wieder einmal Stimmen unter Putz aktiv. Ich spürte Unbehagen, Unsicherheit, Angst. Ich fühlte mich klein. Irgendwann konnte ich aus diesem Brei die Mahnung heraushören, ich hätte etwas falsch gemacht. Und dann wurde mir auch schon leichter. Ich bin zutiefst dankbar, dass ich heute diese Stimmen hören kann. Ich kann meinen inneren Erzieher wahrnehmen und übersetzen. Ich kann den Druck rausnehmen und sagen, ich bin nicht mehr, drei, sondern 53. Und nicht andere entscheiden darüber ob ich gut oder gut genug bin. Ich bin immer gut genug, in jedem Moment meines Lebens. „What you think of me is none of my business“, schrieb Luise Hay in einem ihrer Bücher. Was du von mir denkst, geht mich nichts an. Was für ein Geschenk, so weit gekommen zu sein! Was für eine Entlastung, zur Gegenwärtigkeit zu finden. Was für eine Freiheit, nicht für die Gefühle anderer verantwortlich zu sein! Was für ein Schmerz, immer wieder an die alten Wunden erinnert zu werden… Und was für eine Trauer, dass es manchmal keinen Weg zum Gegenüber gibt, sondern nur Akzeptieren was ist…
So long!
Ysabelle