Meine Bedürfnisse und deine…
„Dem Bedürfnis nach Einsamkeit genügt es nicht, dass man an einem Tisch allein sitzt. Es müssen auch leere Sessel herumstehen. Wenn mir der Kellner so einen Sessel wegzieht, auf dem kein Mensch sitzt, verspüre ich eine Leere und es erwacht meine gesellige Natur. Ich kann ohne freie Sessel nicht leben.“
Karl Kraus, Fackel 326/328 40; Pro domo et mundo
Für einen Geschäftsbesuch hatte meine Kollegin vor einigen Wochen zwei Einzelzimmer in einem Hotel gebucht. Über Weihnachten meldete sich eine der Damen und änderte das Arrangement. Dame Nr. 2 sei hilfsbedürftig und deshalb wäre ein Doppelzimmer besser. Als ich jetzt mit Dame 2 zusammensaß, erzählte sie, dass sie für diese Entscheidung nicht befragt worden sei. Dame 1 hatte allein entschieden und Dame 2 akzeptiert. Obwohl es ihr nicht recht war. Obwohl die beiden Damen nicht so vertraut waren, dass Dame 2 gern das Zimmer mit Dame 1 geteilt hätte…
Dame 1 hatte sich mit der Änderung des Arrangements mutmaßlich die wunderbaren Bedürfnisse nach Gemeinschaft, Unterstützung, Beteiligung, Zugehörigkeit, Wertschätzung, Vertrauen, Nähe, Gehört werden, Leichtigkeit und Spaß erfüllt. Bei Dame 2 waren die Bedürfnisse nach Autonomie, Selbstständigkeit, Respekt, Wertschätzung, Beteiligung, Vertrauen, Gehört werden, Schutz und Ehrlichkeit im Mangel. Und trotzdem hatte Dame 2 gute Gründe, dem geänderten Arrangement nicht zu widersprechen: Harmonie stand da an erster Stelle. Auch fürchtete sie, ihr Einspruch könne die Verbindung gefährden. Das Bedürfnis nach Frieden war so groß, dass sie sich nicht traute, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse anzumelden. Als Außenstehende konnte ich beobachten, wie Frust, Schmerz, Hemmungen und – wie ich finde – falsch verstandene Rücksichtnahme die Verbindung erst recht eintrübten.
Diese Szene war eine Zeitreise für mich. Ich hätte vielleicht früher das Zimmer umbestellt, ein Verhalten, das ich heute als übergriffig bewerte. Das gilt vor allem dann, wenn der andere nicht in die Entscheidung einbezogen wurde.
Mit Sicherheit hätte ich die Klappe gehalten, wenn mein Gegenüber das Arrangement geändert hätte. Mit Grollen und Schmollen hätte ich reagiert, Wolf außen giftet gegen das Gegenüber, Wolf innen macht mir Vorwürfe, weil ich nicht für meine Belange eintrete, weil ich schon wieder…
In meinem fünften intensiven GfK-Jahr erkenne ich immer deutlicher meine Verantwortung für mich und für mein Handeln. Und nie erschienen mir die Fragen schöner: Was brauche ich, und was brauchst Du?
Heute will ich im Blick behalten, was für mich wichtig ist und mir gut tut. Und ich werde Dich fragen, was Du brauchst und was Dir gut tut.