Mich verletzen meine eigenen Gedanken
„Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.“
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §103
Gestern Morgen war der Heizungsmonteur bei mir. Meine Mitbewohner, die Katzen, schnurrten ihm um die Beine. Er bückte sich, streichelte sie, blickte zu mir hinüber und sagte, „die sind aber lieb und verschmust!“
Ich erinnerte mich an einen Besucher, der vom ersten Augenblick auf Abwehr eingestellt war, nach den Katzen schlug, wenn sie ihm näher kamen. Und ich erinnerte mich an ein Familienmitglied, das zu mir sagte, „kannst du diese Viecher nicht einsperren, wenn ich da bin?“
Und ich erinnere mich an den Weihnachtsbesuch einer alten Freundin. Auch ihr gegenüber wurden die Katzen sehr liebebedürftig, der braune Kater versuchte es mit dem guten alten Milchtritt und fuhr dazu die Krallen aus, was ihrer Tweedhose nicht bekam. Sie pflückte ihn von ihrem Schoß und sagte energisch: „Lässt du wohl meine Hose in Ruhe?“
Zuerst wollte ich darüber schreiben, dass jeweils das gleiche passiert
(die Katzen wollen schmusen), und die Menschen reagieren so unterschiedlich, weil sie unterschiedliche Dinge denken. Stimmt. Punkt. Aber wie geht es mir in diesen Situationen?
Der Monteur hatte einen intensiven Geruch an sich, der mir nicht sympathisch war, das merkte ich, als ich die Tür öffnete. Aber als er mit meinem Kater schmuste, flog ihm mein Herz zu und es dachte in mir, „siehst’s, es gibt eben doch Leute, die Katzen mögen und gern in ihrer Gesellschaft sind.“ Als damals mein Familienmitgled vorschlug, ich möge die Miaus einsperren, hätte ich am liebsten das Familienmitglied irgendwo eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen. Aus der Aussage des Familienmitglieds generierte ich eine Ablehnung meiner Lebensweise. Der Mann, der nach den Katzen schlug und nebenbei erzählte, er habe immer gern Schäferhunde gehabt, die auch gut gehorcht hätten, fiel im gleichen Moment in der Partnerlotterie durch den Rost.
Es ist nicht das, was die Leute sagen oder wie sie sich verhalten, was mich verletzt, sondern meine Einschätzung darüber. Aus der Abwehr meiner Katzen – oder der Ablehnung eines Verhaltens von mir – rechnet mein Kopf in Nullkommanix heraus, dass mit meinem Gegenüber etwas nicht stimmt. Und dieser Gedanke schmerzt und verletzt mich. Nicht etwa das Verhalten des anderen, sondern meine eigenen Gedanken über ihn und sein Verhalten lösen diese Gefühle aus.
Heute kann ich mich entscheiden, Handlungen und Aussagen meines Gegenübers zur Kenntnis zu nehmen, ohne daraus verletzende Gedanken zu produzieren. Wenn mich ihr Verhalten irritiert, kann ich mich fragen, welches Bedürfnis bei mir im Mangel ist.