Von Zügen und Tapeten
Hallo, Welt!
Gestern war ich mal wieder mit der Bahn unterwegs, immer wieder ein besonderes Erlebnis. Der IC von Rostock nach Frankfurt erreichte Hamburg mit einem defekten letzten Wagen. Ich schätze, 130 Plätze, von denen viele reserviert waren, fehlten. Am Gründonnerstag, einem der Hauptreisetage im Jahr.
Später dann am Abend dann wollte ich in die andere Richtung. Der Bahnsteig füllte sich, die Abfahrtszeit rückte näher, aber kein Zug kam. Es kam auch keine Ansage und keine Anzeige. Die Abfahrtszeit war längst verstrichen, als in der Ferne die Lichter des Zuges zu sehen waren. Eintreffen zehn Minuten nach Abfahrt – ist das schon ein Zeitparadoxon?
Während ich wartete, versuchte ich herauszufinden, welche Bedürfnisse in mir unerfüllt waren. Respekt sprang mich als erstes an. Als Kunde möchte ich respektvoll behandelt werden. Die Strategie dazu ist, dass man mich informiert, was los ist. Klarheit, Unabhängigkeit, Autonomie. Ich möchte gern selbst entscheiden, was ich mit der Wartezeit anfange. Das kann ich aber nicht, wenn ich keine Informationen habe. Und wieder einmal wurde mir deutlich, dass „mein Zug soll kommen“ kein Bedürfnis ist, auch wenn es sich im ersten Moment so „anfühlte“.
Die intensivste Lektion zu diesem Thema bekam ich 2008. Damals wurde mein Arbeitszimmer von Grund auf renoviert. Ich hatte mit maximal zehn Arbeitstagen gerechnet, aber nach drei Wochen waren die Fortschritte noch immer wenig erkennbar. Meine Verzweiflung stieg ins Unermessliche. Zum Glück war gerade an einem Wochenende ein GfK-Modul angesagt und ich begriff: Tapeten an den Wänden sind kein Bedürfnis! Als ich der Sache nachspürte, stellte ich fest, dass es mir in erster Linie gar nicht um die herumliegenden Werkzeuge, den Dreck oder das Durcheinander im Haus ging. Das war zwar lästig, aber letzten Ende nicht lebensgefährlich. Was mir fehlte, waren ganz andere Dinge. Klarheit (wie es weiter geht und wann die Arbeiten abgeschlossen sein würden), Unterstützung, Kooperation, vor allem aber Verbindung. Hallo, sprich mit mir! Und genau so war es gestern Abend bei der Bahn. 2008 habe ich einen ziemlich klaren Selbstausdruck gefunden. Noch heute erinnere ich mich an die Kraft, die mir zuteil wurde, als ich endlich „gesagt“ hatte, was mir fehlte. Ich hatte mich gezeigt, und ich war bereit, die Konsequenzen zu tragen, zum Beispiel Komplettabbruch der Arbeit. Die Folge war jedoch, dass es wieder zu Verbindung kam, zu Klarheit, Gemeinschaft. Vielleicht sollte ich mal mit Farbe und Pinsel über den Bahnhof ziehen und meinen Freunden aufschreiben, was meine Bedürfnisse sind. Interessanterweise ist das Bedürfnis eben nicht, dass der Zug pünktlich ist. Das steht auch gar nicht auf Marshalls Bedürfnisliste. Aber Sicherheit, Verbindung, Klarheit, Autonomie – das sind meine Bedürfnisse, für deren Erfüllung ich mich gern einsetze. Nur – wie? Vielleicht schreibe ich doch mal an Herrn Grube. Völlig gewaltfrei natürlich…
So long!
Ysabelle