Alle meine Ichs: Von Gut-Achtern und Kindern
Hallo, Welt!
Unter dieser Überschrift sollte ein wohl durchdachtes theoretisches Werk mit vielen Quellen zum Thema „Inneres Team“, verschiedene Persönlichkeitsanteile und das Konzept des inneren Kindes stehen. OK, jetzt wird es statt dessen ein bisschen persönlicher.
Heute Nachmittag hatte ich eine Begegnung, die die Verbindung nicht in einer Weise stärkte, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich fuhr anschließend nach Hause und an einem Zebrastreifen entdeckte ich eine Gruppe von Leuten, deren Anblick in mir aus bestimmten Gründen tiefe Verzweiflung und Schmerz auslösten.
Ich parkte den Wagen, ging ins Haus und versuchte herauszufinden, welche Bedürfnisse bei mir beim Anblick dieser Menschen im Mangel waren:
Gesehen werden
Wertschätzung
Verbindung
Gemeinschaft
Vertrauen
Nähe
Leichtigkeit
Beteiligung
In meinem Kopf wurde ein Scan durchgeführt. Wen könntest du gerade mal anrufen, um über diesen Mangel zu sprechen und Einfühlung zu bekommen?
Die Skype-Empathie-Hotline fiel mir nicht ein.
Die Namen, die mir einfielen, wurden im Nu von der Liste gestrichen:
„Nein, das geht nicht. Die kannst du nicht vollquaken. Wahrscheinlich hat sie jetzt sowieso mit ihrem Sohn zu tun, der gerade mit einer operierten Nase aus dem Krankenhaus gekommen ist.“
Nächster Name:
„Nein! Es ist Samstagnachmittag, da haben die Leute andere Sorgen als sich dein Geheule anzuhören.“
Nächster Name:
„Die hat bestimmt ihren Freund zu Besuch, da passt das jetzt nicht..“
Ein Teil von mir produzierte noch ein paar weitere Vorschläge, aber der innere Entscheider hatte immer wieder gute Gründe, warum ich gerade diese oder jene Person nicht kontaktieren sollte.
Wenn ich die Gründe ansehe, höre ich „Stimmen“, die sicher stellen wollen, dass ich andere Menschen nicht „belästige“. Diese Stimmen meinen, es wäre eine Zumutung, meinen Kummer mit anderen Menschen zu teilen. Diese Stimmen möchten sicher stellen, dass ich die Beziehung zu anderen Menschen nicht belaste, indem ich sie in Anspruch nehme. Dahinter stecken so prickelnde Glaubenssätze wie „nimm dich nicht so wichtig“ oder „da wirst du ja wohl allein mit klarkommen!“.
In diesem Fall hatte ein innerer Entscheider dafür gesorgt, dass ich niemanden angerufen habe.
Durch Magie klingelte kurz darauf das Telefon. Ein wirklich vertrauter Freund wollte sein neues Handy testen. Er bekam 40 Minuten Schluchzen, Verzweiflung und Schmerz ab und sagte eigentlich nicht viel mehr als „schön, dass du da so klar bist“ oder „das hört sich wirklich schwierig an“.
Danach ging es mir so viel besser, dass ich noch einmal genau hinschauen möchte, warum ich vorher eben nicht selbst jemanden angerufen habe.
Wir alle haben in uns verschiedene Anteile, die für unser Handeln und Unterlassen zuständig sind. Ein Anteil trifft die Entscheidungen, und er hat gute Gründe dafür. In meinem oben beschriebenen Beispiel wollte der Entscheider mich vor Ablehnung und Beziehungsabbruch schützen. Dieser Anteil hat sehr früh gelernt, dass es gefährlich ist, sich anderen Leuten zuzumuten. Also versucht er, mich vor unangenehmen Folgen meines Handelns zu bewahren.
Nach dem Telefonat mit dem alten Freund meldete sich der innere Gutachter, also ein Persönlichkeitsanteil, der die Entscheidungen meines Entscheiders auf Richtigkeit überprüft. Seine Aufgabe ist es, gut auf mich zu achten. Andere nennen ihn auch den Inneren Erzieher oder den inneren Richter, aber mir gefällt Gut-Achter besser. Denn ein Richter agiert leider oft in einem System aus Richtig oder Falsch. Und das möchte ich gern hinter mir lassen.
Nun kommt es häufig vor, dass der Gutachter die Entscheidungen des Entscheiders nicht mit Freude begrüßt. In meinem konkreten Fall maulte er: „Das war doch ein Supergespräch mit dem Freund. Wieso hast du nicht gleich jemanden angerufen? Meine Güte, das solltest du doch inzwischen gelernt haben. Hast du nicht neulich erst was über Weihnachtsmann-Energie geschrieben? Man muss das auch anwenden, meine Liebe… so wird das nie was…“
Jetzt ist eine gute Gelegenheit, mich mit beiden zu verbinden.
Der eine möchte mich in der konkreten Situation vor Schaden bewahren und entscheidet sich dagegen, jemanden anzurufen.
Der andere überprüft diese Entscheidung und möchte mich ermutigen, gut für mich zu sorgen. Vor allem möchte er bewirken, dass ich beim nächsten Mal in so einer schwierigen und schmerzhaften Situation Hilfe bekomme und nicht allein davor stehe. Fazit: Beide meinen es gut mit mir. Beide wollen mein Bestes. Doch haben sie gelernt, gegeneinander zu arbeiten, statt eine gemeinsame Lösung zu finden. Der erste Schritt zu mehr Wohlbefinden ist also, beiden Seiten zuzuhören und ihnen Einfühlung zu geben:
Entscheider, du möchtest wirklich für meinen Schutz sorgen, indem die Beziehungen von Menschen, die mir wichtig sind, nicht durch Bitten belastet werden. Geht es dir darum? (… und anscheinend hast du noch immer den Glaubenssatz, dass Bitten eine Belastung sind. Daran arbeiten wir demnächst mal…).
Gut-Achter, du wünschst dir so sehr, dass ich die Hilfe bekomme, die ich in so einer traurigen Situation gebrauchen könnte, und du möchtest mich ermutigen, mich um die Erfüllung meiner Bedürfnisse zu kümmern. Ist es so?
Unter diesem Aspekt könnte dabei herauskommen, dass der Gutachter dem Entscheider hilft, aus meinen unzähligen Telefonbuchkontakten die zwei oder drei Menschen herauszufiltern, für die es gerade eine Freude wäre, mich zu unterstützen. Oder eben die Empathie-Hotline anzutickern. Vielleicht gibt es noch andere kreative Lösungen. Fest steht jedenfalls: Die beiden arbeiten besser zusammen als gegeneinander.
Und das innere Kind?
Ich habe einen ganzen Stall davon in allen Altersstufen. Eine Vierjährige, die immer artig sein will, eine Fünfjährige, die sich an ihrer Lebendigkeit freut und zu jedem Lied eine zweite Stimme erfinden kann, eine Achtjährige, die voller Schmerz die Hände vor der Brust verschränkt. Eines meiner inneren Kinder kann es nicht aushalten, wenn ein anderer Mensch leidet oder Kummer hat. Und eins meiner inneren Kinder ist überzeugt, dass es nur dann etwas haben darf, wenn alle anderen etwas bekommen haben. Es ist eine kostbare Aufgabe, all diesen Kleinen eine liebevolle und zuverlässige Kinderfrau zu sein. Druck, Häme, Schläge, Nicht-Sehen und Einsamkeit hatten sie in ihrem Leben genug.
So long!
Ysabelle