Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Software-Update für den Navi im Kopf

Hallo, Welt!

Wenn ich bei C & A oder einem anderen großen Kaufhaus shoppen bin, mache ich mir gern einen „Spaß“. Gelegentlich kommen dort nämlich Lautsprecherdurchsagen, die mir als Nicht-Mitarbeiter unverständlich sind. „47, bitte einmal 800“. Wahrscheinlich heißt das im Klartext, Frau Schulze möge sich bei der Zentralkasse einfinden. Wenn ich so eine Ansage höre, stöhne ich gern laut und sage: Ich höre wieder Stimmen…!
Nicht wirklich lustig für Leute, die an Schizophrenie erkrankt sind und von ihren Stimmen „ferngesteuert“ werden. Aber mir ist meist ein Lacher sicher.

Tatsächlich höre ich im wirklichen Leben Stimmen, die mir sagen, was richtig und falsch ist, und ich möchte sehr aufpassen, wie ich das jetzt formuliere, damit nicht die Männer mit der weißen „Ich-hab-mich-lieb“-Jacke vor meiner Tür stehen, um mich zu einem kostenlosen Aufenthalt in einer Funny Farm einzuladen.

Irgendwann habe ich mal die Zahl aufgeschnappt, dass ein Mensch bis zum Erwachsenenleben 22000 Stunden zumeist elterliche Erziehung durchläuft. Das sind nicht mal drei volle Jahre, ich habe gerade mal den Taschenrechner bemüht. In diesen 22000 Stunden hören wir so interessante Sachen wie

  • sitz gerade
  • nein, das schöne Händchen
  • wenn du eine Fünf in Mathe nach Hause bringst, ist Papa böse
  • wenn du nicht aufisst, ist Mama traurig
  • wenn du nicht lieb bist, kommst du ins Heim
  • jetzt geb dir doch endlich mal ein bisschen Mühe

Ihr dürft diese Liste gern fortsetzen.

Kinder lernen auf diese Weise nicht nur, dass die für die Gefühle der Erwachsenen verantwortlich gemacht werden, oder dass ihr Essverhalten das morgige Wetter beeinflusst. In ihrem Kopf wird auch eine Art „Navi“ installiert, der ihrem Leben Richtung geben soll, wenn die Eltern gerade mal kein Auge auf sie haben können. Neben so sinnvollen Botschaften wie „nicht bei Rot über die Straße laufen“ wird in diesen Navi leider auch ein Haufen – Scheiß – programmiert. Und so kommt es, dass wir auch als Erwachsene mit Textansagen konfrontiert sind, die meist nur wenig Freude hervorrufen.

In der Coaching-Szene werden gern die inneren Antreiber zitiert:

Der amerikanische Transaktionsanalytiker Taibi Kahler hat fünf davon definiert, die als typisch für die Selbststeuerung von Menschen gelten:

Der „Sei stark!“-Antreiber
Der „Sei perfekt!“-Antreiber
Der „Mach es allen recht!“-Antreiber
Der „Beeil dich!“-Antreiber
Der „Streng dich an!“-Antreiber

Ich habe jahrzehntelang überhaupt nicht gemerkt, dass diese Burschen in meinem Kopf ihr Unwesen trieben. Am meisten Druck macht mir „Mach es allen recht“. Aber das ist nicht der einzige Chor, der mir schaurige Gesänge vorträgt. Schlimmer sind die kleinen Spitzen, die hinterrücks geflogen kommen:
Reiß dich zusammen…
du Versager!
pass doch auf!
… zu dumm zum Milchholen…
du bist faul
aus dir wird nichts
du kriegst kein Bein auf die Erde
du landest noch mal in der Gosse…

Ich möchte Euch allen wünschen, dass keiner von Euch jemals von seinen Innenanteilen, seinem eingebauten Navi solche Kommentare zu hören bekommt. Im Alltag erlebe ich allerdings immer wieder, dass ich damit nicht allein bin.

Zurückblickend auf mehr als 50 Jahre in dieser Gesellschaft ist mir klar, dass es die Menschen, die so mit mir sprachen, im Grunde ihres Herzens gut mit mir meinten. Wer 12 Jahre Nazi-Diktatur hinter sich hatte, hart wie Kruppstahl und zäh wie Leder sein sollte, wer der Vernichtung der jüdischen Nachbarn nichts entgegenzusetzen hatte, der fand keine Worte des Mitgefühls und der Empathie. „Reiß dich zusammen“ musste „ich seh dich“ ersetzen. „Heulsuse“ drückte das Unbehagen über Gefühlsausbrüche aus. „Stell dich nicht so an“ galt als Ermutigung, und über meine Todesangst vor dem Weihnachtsmann wurde in der Familie herzhaft gelacht. Das war nicht böse gemeint. Ich glaube, die Menschen waren von ihrer eigenen Menschlichkeit, von ihrer Bedürftigkeit so weit entfernt, dass sie nicht merkten, was sie taten.

Ich habe nicht all zu viel Hoffnung, dass zwei Generationen später alles besser ist. Im vergangenen Jahr hörte ich im Supermarkt, wie eine Frau zu einem Kind sagte: „Ich wusste gar nicht, dass du so gern von mir was auf den Pohschi haben willst!“. Ich war starr vor Entsetzen und sprach später mit einem jungen Ehepaar über diese Szene. Die junge Frau meinte missbilligend: So was sagt man nicht in der Öffentlichkeit“, und ich hätte mich am liebsten unter das nächste Auto geworfen. Ich finde nämlich, so was sagt man am besten niemals. Kennt Ihr ein Kind auf der Welt, das gern geschlagen wird?

Was also tun mit den Stimmen im Kopf, die uns antreiben, beschimpfen, zur Ordnung rufen, Druck machen, „loben“…?

Wahrnehmen, Freundinnen und Freunde! Hört ihnen zu! Nehmt zur Kenntnis, dass Ihr und die Stimmen nicht das gleiche seid. Auch wenn die Stimmen im Kopf hundert Mal am Tag wispern, du wärst ein Versager, auf dem absteigenden Ast, falsch so wie du bist, nicht gut genug, ein Mängelexemplar… Glaubt es ihnen nicht! Lasst sie reden, und wenn Ihr könnt, findet jemanden, der diesen Stimmen Einfühlung gibt. Diese Anteile brauchen so dringend Einfühlung wie unsere Eltern und Großeltern sie gebraucht hätten. Findet heraus, was ihre wirkliche Botschaft ist, und bedankt Euch bei diesem inneren Navi für seine Richtungsangabe.

Das bedeutet nicht, dass Ihr auch in diese Richtung fahren müsst. Es bedeutet nicht, dass mit Euch irgendetwas falsch ist. Es bedeutet nicht, dass ihr geradewegs in den Abgrund rauscht. Es zeigt lediglich:
Es gibt einen Persönlichkeitsanteil, der Eurer Bestes will und nicht gelernt hat, das mit Lisas Säuselstimme auszudrücken: „Fahren Sie geradeaus über den Kreisverkehr“. Wenn Ihr besser wisst, wo es langgeht, traut Eurer Erfahrung, traut Eurer Intuition, vertraut auf Euch! Der Navi ist nur so gut wie seine Programmierung. Er behauptet vielleicht, wir würden direkt im Hafenbecken landen. Aber wir können der Stimme antworten: Danke für deine intensive Warnung. Aber ich weiß, dass seit der Zeit deiner Programmierung hier eine Brücke gebaut wurde …

So long!

Ysabelle

3 Reaktionen zu “Software-Update für den Navi im Kopf”

  1. Anja

    Ach Ysabelle, dieser Artikel rührt so wunderbar an das, was mich seit der letzten Krise beschäftigt…..ich danke Dir von Herzen…im Namen meiner Eltern 😉
    Liebe Grüße Anja

  2. Ysabelle Wolfe

    Hallo, Anja,
    ich habe es auch ein Stück weit für meine Mutter geschrieben. Sie ist jetzt Ende 70 und ihre Stimmen möchte ich schon gar nicht haben…

    Y.

  3. Petra

    Liebe Ysabelle, danke für den humorgewürzten Beitrag. Ich habe mich schon oft mit dem Du-bist-zu-langsam-Antreiber herumgequält. Ja, auch er meint es eigentlich gut mit mir. Aber eigentlich möchte ich dir eine andere Info geben, falls du mal wieder in einem Kaufhaus bist. Wenn dort jemand sagt: „ich geh mal eben auf 17“ heißt das: ich muss mal… Seit ich das weiß, habe ich es schon öfter gehört und mich dann ganz wie jemand gefühlt, der unberechtigt Zugang zu geheimem Wissen hat. Ich wünsche dir eine schönes Wochenende und danke für den tollen Blog. Herzliche Grüße! Petra

Einen Kommentar schreiben

Hinweise zur Kommentarabonnements und Hinweise zum Widerrufsrecht finden sich in der Datenschutzerklärung.

Copyright © 2024 by: Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren! • Template by: BlogPimp Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA.