Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Mystische Zahlenspiele aus D-Mark-Zeiten

Hallo, Welt!
Gestern sind mein Sohn und ich zur Trauerfeier für meinen Vater aufgebrochen. Junior kam morgens zu mir, damit wir in einem Auto unterwegs sind. „Wo hast du Schuhputzzeug?“, fragte er mich, weil er noch mal über die guten Schwarzen bohnern wollte. Wenig später hörte ich ihn im Wirtschaftsraum kichern. „Du und deine Vorratshaltung! Diese Marmelade ist von 2003 und die Adresse auf dieser Konserve hat sogar noch eine vierstellige Postleitzahl…
Heute habe ich einen kurzen Blick auf besagtes Regal geworfen. Tatsächlich: Marmelade von 2003. Zwei Gläser Rotkohl, deren Mindesthaltbarkeitsdatum mit Oktober 2007 angegeben war. Eine China-Sauce von 1999 habe ich leichten Herzens der Tonne übergeben. Beim Rotkohl fiel mir das deutlich schwerer, und die Marmelade habe ich zurück ins Regal gestellt. Ein Glas Schwarzwurzeln war noch mit D-Mark ausgezeichnet. Das habe ich dann auch entsorgt.
Als mein Sohn sich über die Vorratshaltung mokierte, spürte ich Unbehagen, ja so etwas wie Schuldgefühle. Als wollte ich die ganze Familie mit abgelaufenem Essen ausrotten. Ertappt, als hätte ich etwas Verbotenes getan. Scham. Ach ja, Scham war das.

Als ich heute davor stand, fest entschlossen, alle abgelaufenen Lebensmittel wegzuwerfen, fühlte es sich ganz anders an. „Die schönen Sachen… das kann man doch alles noch essen… da ist doch nichts mit los… oh, ja, diese Marmelade… die habe ich von dem Besuch in XY mitgebracht… Das schlechte Gewissen von „willst du uns alle umbringen“ hatte sich verändert in „du willst doch nicht etwa Lebensmittel wegwerfen, die noch gut sind…?!“
Anscheinend gibt es zu dem Thema zwei Wahrheiten in mir. Der eine Teil ist so stolz auf das gefüllte Vorratsregal. Bei mir muss keiner verhungern. Und wenn Morgen eine Busladung voller Leute vor der Tür steht, ich kriege sie alle satt. Die Dosen sind nicht verbeult oder aufgebläht, der Rotkohl sieht nach wie vor prima aus. Und Mindesthaltbarkeitsdatum ist eh eine Erfindung der Industrie.
Der andere Teil möchte auf einen besonders effizienten Umgang mit Lebensmitteln an den Tag legen. First in, first out. Keinen Mais nachkaufen, wenn noch vier Dosen Mais im Regal stehen. und beim Einräumen fällt mir auf, ach, es war ja gar nicht Mais, was fehlt, sondern Champignons… Und dann diese grandiose Saisonware… Nur jetzt… amerikanische Wochen, asiatische Wochen… Glasnudeln… komisch, damit koche ich nie, aber ich erliege der Versuchung.

Anscheinend gibt es ein Lernfeld, das heißt: Empathische Vorratshaltung. Wie viele Dosen, Gläser, Marmelade (Mist, wieso habe ich den holländischen Sirup weggeworfen, der war doch erst 2010 abgelaufen!), Senf, Tütenpürree (ich schwöre, nur für den Notfall), Thunfisch und Prinzessbohnen brauche ich, um mein Bedürfnis nach Sicherheit zu erfüllen? Denn dass es nicht um das Bedürfnis nach Nahrung geht, ist mir sehr klar. Ich denke, das ist ein Erbe der Kriegsgeneration, die einfach nichts hatte, und die alles hortete, egal, was es war. Wenn man es selbst nicht aß, konnte man es aber wenigstens tauschen… Diese Haltung war bei uns in der Familie ganz tief verankert. Komisch, in den Schränken meiner Mutter findet sich aber heute gar nichts mehr. Sie scheint das irgendwie überwunden zu haben. In ihrem großen Kühlschrank langweilen sich ein paar Medikamente, zwei Flaschen Wasser, eine Dose Sprühsahne, eine Bisquitrolle und zwei Sahnepuddings. Aber: Als wir 1978 den Haushalt meiner Großmutter auflösten, fanden wir noch eingeweckte Schattenmorellen von 1963… Solchen Zeiträumen nähere ich mich auch…

Also: Vorratshaltung erfüllt mir ein Bedürfnis nach Sicherheit. Selbst Vorräte mit deutlich abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum erfüllen dieses Bedürfnis. Sie erfüllen das Bedürfnis auch, wenn die Adresse auf dem Etikett noch eine vierstellige Postleitzahl hat. Und gleichzeitig hätte ich gern neue neue Strategie, mit der ich mir dieses Bedürfnis erfüllen kann, ohne missbilligende Blicke anderer Menschen zu kassieren. Mal sehen, was mir da bis Weihnachten einfällt. Eine Strategie könnte sein, erst mal sehr bewusst mit den „alten“ Sachen zu kochen, also vielleicht die alten weiter nach vorn zu schieben oder gezielt nach leckeren Rezepten für diese Zutaten zu suchen. Mal ehrlich, bei 30 Grad im Schatten, die jetzt endlich kommen sollen, ist mir überhaupt nicht nach Rouladen mit Rotkohl…

So long!

Ysabelle

2 Reaktionen zu “Mystische Zahlenspiele aus D-Mark-Zeiten”

  1. Gabriel

    Du befindest Dich in guter Gesellschaft. Ich habe mich vor ein paar Jahren auch massig bevorratet. Jetzt laufen all die schönen Konserven ab … Und auch bei anderen Mitgliedern meiner Familie stehen noch Vorräte, die 2009 abgelaufen sind.

    Ich weiß, dass ich mein Bedürfnis nach Sicherheit noch mehr befriedigen könnte, wenn ich mich dazu aufraffe, mal alle Vorbereitungen zu treffen, die das Bundesamt für Katastrophenschutz empfiehlt: http://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/BBK/DE/Publikationen/Broschueren_Flyer/Brosch_FdN.html

    Vielleicht hilft Dir das ja auch.

  2. Ysabelle Wolfe

    Hallo, Gabriel,
    ich glaube, es geht nicht wirklich um Katastrophenschutz. Da wären sicher die Kernkraftwerke in meiner Umgebung eine Einladung, eine Tonne Jodtabletten einzulagern… Dieses E-Pak-Zeugs kann man mit Sicherheit essen und damit auch überleben. Mir geht es aber auch um Flexibilität (wenn mir in den Kopf kommt, Schwarzwurzeln zu essen, sollten welche im Haus sein), Leichtigkeit, Genuss und Wertschätzung. Aus dem Nichts etwas zu machen, was auch noch schmeckt – dafür gab es zu Studententagen immer Anerkennung und Lob. Ich schätze, auch in meinem Kopf dürfen Strategien entrümpelt werden… Wobei… gerade gestern habe ich mich gefreut, Vollkorn-Toastbrot eingefroren und Pinienkerne in größeren Gebinden im Vorrat zu haben. Meine Seminarteilnehmer kamen bei „Wünsch-Dir-was“ auf spannende Ideen, was alles zur Kürbiscremesuppe passt. Also wurden noch mal schnell ein paar Croutons geröstet. Und Pinienkerne. Und dazu ein bisschen Kürbiskernöl. Lecker! Und Sahne. Wie gut, so was im Haus zu haben…

    So long!
    Ysabelle

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