Der Schuh
Hallo, Welt!
Heute fand im Seminarraum die dritte Gesprächsrunde der Mediation statt. Während ich am vergangenen Wochenende noch 100 Euro darauf verwettet hätte, dass dieses Projekt heute mit Funkenflug und Donnerhall auseinanderfliegt, zeigte sich heute, dass meine beiden Medianten sich gerade erstmals in der Erhellungsphase befinden: „Ah… so ist das bei dir…“ Ich bin unruhig und besorgt, weil ich mich noch immer nicht strikt an die Regeln des Mediationsverfahrens halte. Heute ging es darum, dass eine Partei das Gesagte der anderen Partei als Vorwurf aufnahm: „Aber ich bin doch daran nicht schuld…“
Die nächste halbe Stunde habe ich dann zwischen den beiden gestanden und das Passepartout eines ausrangierten Bilderrahmens zwischen ihnen gehalten. „Das ist der Film von Person A., und er hat nichts mit Dir zu tun. Nein, du redest ja auch nicht mit George Cloney auf der Leinwand, wenn er im Kino eine Rolle spielt…“
Ach, wie schwer ist es doch, den Schuh im Raum stehen zu lassen und nicht anzuziehen. Unser System regiert mit Schuld und Scham, mit Zuschreibungen und Höhenunterschieden. Wie tragisch, dass wir in aller Regel nicht hören können, dass der andere einfach etwas von sich erzählt, und wir in dieser Geschichte höchstens der Auslöser sind, aber nie und nimmer der Grund oder die Ursache…
Ich habe selber die fatale Neigung, mir jeden Schuh anzuziehen, der im Raum steht. An einer Stelle der Mediation habe ich dann heute meinen Budapester Slipper ausgezogen und in die Zimmermitte geschubst: „Den ziehst du dir doch auch nicht an… dann brauchst du dir jetzt auch nicht anzuziehen, was der andere über sein Erleben sagt…“ Ich wünschte, dass ich das für mein eigenes Leben häufiger beherzigen könnte…
Gestern war ich bei meiner Mutter, um Bankangelegenheiten zu erledigen. Kurz vor meinem Eintreffen war die zarte alte Dame schwer gestürzt. Der Pflegedienst war da und kümmerte sich um sie, aber wir waren dann gemeinsam beim Zahnarzt und in der Notaufnahme des Krankenhauses. Dort wollte sie mich fast mit Gewalt nach Hause schicken. „Du fährst doch nicht gern im Dunklen. Ich bin doch dafür verantwortlich, dass du gut nach Hause kommst…“ Hallo? Ich bin 55 Jahre alt und muss schon selbst entscheiden, wann ich fahre… Aber diese ungesunde Verantwortlichkeit habe ich aus meiner Familie intensivst übernommen. Neulich hatte ich Besuch von einem Freund, der wichtigen Papierkram zu erledigen hatte und im Vorfeld meinte, es sei wohl für ihn leichter, das sozusagen unter Aufsicht zu machen. Doch jedes Mal, wenn ich ihn fragte, wie er vorankäme, sagte er Dinge wie „keine Kontrollfragen, bitte!“ Irgendwann änderte er seinen Text und fragte: „warum genau willst du das wissen?“. Ich brach in Tränen aus, weil ich plötzlich spürte, dass ich mich für die Erledigung seines Papierkrams verantwortlich fühlte. Was für eine Bürde!
In der Rückmeldung, die mir Gerhard und Kirsten kürzlich gegeben haben, ging es im weitesten Sinne auch um den Schuh im Raum. Ich bin nicht zuständig, ich bin nicht verantwortlich. Ein neuer Textbaustein. Noch drehe ich ihn immer mal wieder erstaunt hin und her. Mensch, stimmt ja. Ich bin Auslöser, nicht Ursache. Und DU fühlst …, weil Du … brauchst…
Möge der Tag kommen, an dem ich diesen Teil der GfK im direkten Zugriff habe, und nicht erst mühsam aus dem externen Speicher laden muss!
So long!
Ysabelle