Das Glas Honig
Was es ist
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Quelle: Erich Fried „Es ist was es ist. Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte“, Berlin 1996
Hallo, Welt!
Dieser Tage hatte ich Besuch zum Mittagessen. Der Freund erzählte eine Geschichte aus seinem Leben, die mich sehr nachdenklich stimmte.
Seit rund 15 Jahren ist er von seiner Frau geschieden. Die beiden haben gemeinsame Kinder. Seine betagte Mutter pflegt nach wie vor den Kontakt zur Ex-Frau, denn sie ist auch die Mutter ihrer Enkelkinder. Die Ex-Frau hat einen neuen Partner, der Hobby-Imker ist. Vor einigen Monaten bekam der Freund von seiner Mutter ein Glas Honig geschenkt. „Ich konnte den Honig nicht essen. Ich wusste, woher der kam: Vom Lebensgefährten meiner Ex-Frau. Da war einfach immer der Gedanke an die Ereignisse, die zum Ende meiner Ehe geführt hatten, an Zeiten, in denen meine Bedürfnisse nach Vertrauen, Klarheit, Schutz, Sicherheit und Ehrlichkeit vollkommen unerfüllt waren“. (Ich hab das mal in Giraffisch übersetzt).
Bald darauf bekam der Freund von einer alten Dame, mit der er seit 20 Jahren geschäftlich zu tun hat, quasi zum Jubiläum ein Glas Honig geschenkt. „Und das konnte ich essen. Das war die Würdigung von 20 Jahren guter Zusammenarbeit, es war für mich ein Zeichen von Vertrauen und Wertschätzung…“
Und ich dachte: Mein Gott… es ist ein Glas Honig! In beiden Fällen ist es nur ein Glas Honig! Wenn wir die Etiketten tauschen, du würdest es nicht merken. Das alles passiert nur in deinem Kopf! Das eine Mal löst dieses Glas Honig angstvolle, schmerzhafte Erinnerungen aus, das andere Mal sind es warme, wertschätzende Gedanken. Der Honig ist doch nur der Auslöser. Ein Brotaufstrich, ein Naturprodukt, eine klebrige süße Masse im Glas mit Schraubdeckel. Es ist, was es ist: Ein Glas Honig. Alls andere machen wir uns selbst…
Ich bin dankbar, dass es mir in der konkreten Situation gelungen ist, dem Freund einfühlend zuzuhören, ohne ihn zu belehren. Jedenfalls hoffe ich, dass mir das gelungen ist. Noch immer kostet es mich Kraft, noch immer muss ich das Bewusstsein wie einen Allradantrieb zuschalten, um nicht zu sagen, „Alter, der Honig kann nichts dafür… du machst es dir unnötig schwer!“ Ich weiß heute: In diesen Situationen brauche ICH Einfühlung, um weiterhin beim anderen sein zu können. Vielleicht greift „Einfühlung“ zu hoch. Vielleicht ist es nur eine Form der Anerkennung meiner Gedanken zu dem Thema. Und dann kann es mir auch wieder gelingen, mich dem anderen mitfühlend zur Seite zu stellen. Eine spirituelle Übung.
So long!
Ysabelle
Danke für diesen Beitrag!