Frohes Schaffen… Mythos Arbeit
Hallo, Welt!
Neulich Abend wurde in der ZDF-Sendung „Aspekte“ der Film „Frohes Schaffen“ vorgestellt, der mich sehr nachdenklich gestimmt hat. Im vergangenen Jahr habe ich mich recht intensiv mit dem Mythos Arbeit auseinandergesetzt, denn seit 1983 war meine Arbeit mein Leben, meine tägliche Herausforderung, meine Struktur, meine Belohnung. Arbeit als Strategie lieferte mir Lebensunterhalt, Gemeinschaft mit Kollegen, gelegentlich Wertschätzung und Verbindung, an einem Strang ziehen und Sinnhaftigkeit. Seit ich im Januar 2012 von meinem langjährigen Arbeitgeber auf Null gesetzt wurde, stand diese Strategie auf dem Prüfstand.
Der Film stellt die These auf, dass wir entwicklungsgeschichtlich eigentlich nur auf drei Stunden Arbeit pro Tag ausgerichtet sind. Alles darüber hinaus ist Mythos, Religion, hierarchischer Druck. Da ich ja auch in einem Arbeitslosenprojekt unterrichte, erlebe ich hautnah mit, wie es ist, wenn man über Jahre ausgesteuert ist aus diesem System…
Ich merke, dass das Thema Arbeit total schambesetzt ist. „Man“ muss doch 40 Stunden die Woche arbeiten, wenn man ein nützliches Mitglied der Gesellschaft sein will. „Man“ kann doch nicht einfach die Erwerbstätigkeit einstellen! Es gibt doch einen Grund, warum Männer in eine schwere Sinnkrise geraten, wenn sie in Rente gehen. Ich hatte unlängst im Coaching einen Burnout-Patienten, der verzweifelt darum ringt, wieder „arbeitsfähig“ zu sein. Und eine junge Mutter, die an sich den Anspruch stellt, stets eine perfekt geputzte Wohnung zu haben und immer Zeit und Geduld für die Kinder. Denn wenn sie das nicht „leistet“, hat sie kein Recht darauf, zu Hause zu sein.
Was für eine irre Vorstellung, nur noch zu tun, was ich will! Ich würde nicht mehr in öden Meetings rumsitzen, in denen ich nicht gesehen und gehört werde. Ich müsste keine Belege mehr fürs Finanzamt sortieren. Ich müsste nicht mehr solche unerfreulichen Telefonate mit dem Jobcenter führen wie das von heute Nachmittag. Ich würde ein tieferes Gespür dafür entwickeln, was mir wirklich Freude macht. Ich würde immer noch meine Blusen bügeln, denn ich bügele gern. Ich würde immer noch Schnee schippen, denn ich möchte, dass Menschen heil nach Hause kommen. Ich würde auch bei meiner alten Nachbarin fegen, denn sie unterstützt mich das ganze Jahr, indem sie meine Post annimmt. Ich würde nicht putzen, denn Putzen ist für mich ganz schrecklich. Vielleicht kann ich Bügeln gegen Putzen tauschen? Und trotzdem…. bei dem Gedanken, nie wieder einen festen Job zu finden, wird mir ganz beklommen. Ich muss doch mein Obdach bezahlen, mein Essen, Haarshampoo, Internet… Und der Preis dafür? Dinge tun, die mir keine Freude machen. Mehr arbeiten als mir gut tut. Faule Kompromisse eingehen… Da muss es doch noch etwas anderes geben!
Ich bin an Eurer Meinung zu dem Thema interessiert. Lebt Ihr, um zu arbeiten? Oder arbeitet Ihr, um zu leben? Welchen Stellenwert hat die Arbeit in Eurem Alltag, in Eurem Leben?
So long!
Ysabelle
SPIEGEL ONLINE
29. Januar 2013, 07:40 Uhr
Umfrage
Deutsche klagen über mehr Stress im Job
Termin- und Leistungsdruck, dauernde Unterbrechungen und Wochenendarbeit: Fast die Hälfte der Deutschen klagt einer Umfrage zufolge über wachsenden Stress am Arbeitsplatz. Jeder Vierte verzichtet sogar auf Pausen.
Berlin – 43 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland sind überzeugt, dass die Belastungen im Job in den vergangenen zwei Jahren zugenommen haben. Das geht aus dem „Stressreport Deutschland 2012“ hervor, über den die „Bild“-Zeitung berichtet. Für die Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin seien bundesweit mehr als 17.000 Arbeitnehmer befragt worden – unter anderem zu psychischen Anforderungen, Belastungen und Stressfolgen ihres Arbeitsalltags.
Demnach arbeitet jeder zweite Befragte unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Knapp 60 Prozent der Befragten gaben an, verschiedene Aufgaben gleichzeitig betreuen zu müssen. Fast jeder Zweite wird bei der Arbeit ständig unterbrochen – etwa durch Telefonate und E-Mails. Weil Ruhepausen nicht in den Arbeitsablauf passen oder sie nach eigenem Bekunden zu viel Arbeit haben, verzichtet jeder Vierte auf eine Pause. Insgesamt 64 Prozent arbeiten auch samstags, 38 Prozent an Sonn- und Feiertagen.
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) appellierte an die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen. Sie sagte der „Bild“-Zeitung: „Stress bei der Arbeit kann vorkommen, aber nicht dauerhaft. Und er darf auch nicht krank machen.“ Der Stressreport zeige, wo die Probleme besonders groß seien, aber auch, was man dagegen tun kann. Sie wolle „dem chronischen Stress den Kampf ansagen“ und erwarte, dass die Betriebe mitziehen.
Die Studie bringt der Zeitung zufolge aber auch positive Aspekte zutage: So können sich mehr als 80 Prozent der Mitarbeiter in Deutschland auf gute Zusammenarbeit mit Kollegen verlassen. Man helfe sich gegenseitig im Job. Die überwiegende Mehrheit (96 Prozent) sieht sich nicht durch eine Entlassung bedroht. Drei Viertel fühlen sich den Anforderungen ihres Jobs gewachsen, sowohl fachlich als auch beim Umfang der Arbeit.
cte/dpa
URL:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/stress-report-deutsche-klagen-ueber-mehr-stress-im-job-a-880187.html
„Du musst doch was ordentliches (er)lernen!“ – „wovon willst Du denn mal leben?“ – „als Frau kriegst du sowieso später mal die Kinder“ – „bist du den ganzen Tag zuhause?“ – „hast du immer noch keine Arbeit gefunden?“ – „was kannst du denn mit DEM Studium später mal anfangen?“
Liebe Ysabelle,
das sind die vorwurfsvollen Sätze, die mir in den Ohren schwingen, wenn ich an den Gegensatz Erwerbsarbeit – Freizeit denke. Ich wünsche mir, akzeptiert zu sein, wenn mir Arbeit Spaß machen soll und dadurch oft nicht „einträglich“ ist und ich brauche Vertrauen, dass ich auch wert-voll bin, wenn ich kein Geld „nachhause bringe“. Und das dennoch für mich gesorgt ist, dass ein Ausgleich / Transfer / finanzielle Unterstützung stattfinden wird und ich dazu berechtigt bin. Wenn sich das alles noch leicht anfühlen würde… wär’s perfekt.
Herzliche Grüße, Marina
P.S. Deine nährenden Beiträge haben mich auch letztes Jahr begleitet und besonders hilfreich hat sich die Überschrift „Tod durch Vergleichen“ mir eingeprägt. Danke für Deine Kontinuität und alles Beleuchten dessen, was im jetzigen Moment lebendig ist!
Sag mal, bist Du bei meinen Eltern aufgewachsen?
Gruß,
Ysabelle
Und was liest man dazu in Fachmagazinen?
Am 8.2.2013 in den VDI Nachrichten zwei Artikel, die das Wasser gefrieren lassen:
„Menschen müssen künftig schneller reagieren“
Michael Schulte, Deutschland-Chef des Technologieberaters Capgemini, über den neuen Schub der Digitalisierung und dadurch ausgelöste Veränderungen am Arbeitsplatz
http://www.vdi-nachrichten.com/artikel/Menschen-muessen-kuenftig-schneller-reagieren/62690/4
„Digitalisierung revolutioniert die Arbeitswelt“
30 Jahre nach der Eroberung der Geschäftsprozesse durch den Computer, 20 Jahre nach dem Einzug des Internets ins Alltagsleben und zehn Jahre nach Erfindung des internetfähigen Mobiltelefons wäre die Digitalisierung an sich ein alter Hut. Würden die Unternehmen nicht erst jetzt mit neuen Geschäftsmodellen durchstarten und damit auch die Arbeitswelt revolutionieren. Aber jede Revolution hat bekanntlich auch ihre Schattenseiten.
Grusel-Zitat aus dem Artikel „Der Mensch, nicht die Technik, ist künftig das Nadelöhr.“
http://www.vdi-nachrichten.com/artikel/Digitalisierung-revolutioniert-die-Arbeitswelt/62691/4
Bleibt zu hoffen, dass die Menschen gute Wege finden, damit umzugehen und sich nicht zu sehr durch die Mühle drehen zu lassen.
Hallo, Cami,
und dann gibt es noch eine irre Diskussion beim Spiegel:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/politiker-und-forscher-fordern-30-stunden-woche-a-882537.html
Ich bin nicht sicher, ob ich das feiern soll…
Ich glaube, von der „richtigen“ Arbeit kriege ich nicht genug. Es ist mir leicht, 12 Stunden GfK zu machen, zum Beispiel als Assistenz. Aber hier neun Stunden im Büro zu sitzen, ohne Verbindung mit schwer erkennbarer Sinnhaftigkeit – das erlebe ich als sehr ermüdend.
So long!
Ysabelle
Wie hieß das doch gleich? Gesetz der Anziehung. Kaum fängt man an, sein Augenmerk auf das Thema „Welt der Arbeit“ zu richten, purzeln die Infos nur so über mich herein:
Dieses Zitat stammt natürlich mal wieder aus dem Spiegel.
http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/ist-der-mensch-zum-arbeiten-gemacht-eine-philosophin-antwortet-a-882291.html
Immer wieder lesenswert! Besonders begeistert mich die Definition von Bedürfnis… Ha!
So long!
Ysabelle