Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Frohes Schaffen… Mythos Arbeit

Hallo, Welt!
Neulich Abend wurde in der ZDF-Sendung „Aspekte“ der Film „Frohes Schaffen“ vorgestellt, der mich sehr nachdenklich gestimmt hat. Im vergangenen Jahr habe ich mich recht intensiv mit dem Mythos Arbeit auseinandergesetzt, denn seit 1983 war meine Arbeit mein Leben, meine tägliche Herausforderung, meine Struktur, meine Belohnung. Arbeit als Strategie lieferte mir Lebensunterhalt, Gemeinschaft mit Kollegen, gelegentlich Wertschätzung und Verbindung, an einem Strang ziehen und Sinnhaftigkeit. Seit ich im Januar 2012 von meinem langjährigen Arbeitgeber auf Null gesetzt wurde, stand diese Strategie auf dem Prüfstand.
Der Film stellt die These auf, dass wir entwicklungsgeschichtlich eigentlich nur auf drei Stunden Arbeit pro Tag ausgerichtet sind. Alles darüber hinaus ist Mythos, Religion, hierarchischer Druck. Da ich ja auch in einem Arbeitslosenprojekt unterrichte, erlebe ich hautnah mit, wie es ist, wenn man über Jahre ausgesteuert ist aus diesem System…
Ich merke, dass das Thema Arbeit total schambesetzt ist. „Man“ muss doch 40 Stunden die Woche arbeiten, wenn man ein nützliches Mitglied der Gesellschaft sein will. „Man“ kann doch nicht einfach die Erwerbstätigkeit einstellen! Es gibt doch einen Grund, warum Männer in eine schwere Sinnkrise geraten, wenn sie in Rente gehen. Ich hatte unlängst im Coaching einen Burnout-Patienten, der verzweifelt darum ringt, wieder „arbeitsfähig“ zu sein. Und eine junge Mutter, die an sich den Anspruch stellt, stets eine perfekt geputzte Wohnung zu haben und immer Zeit und Geduld für die Kinder. Denn wenn sie das nicht „leistet“, hat sie kein Recht darauf, zu Hause zu sein.

Was für eine irre Vorstellung, nur noch zu tun, was ich will! Ich würde nicht mehr in öden Meetings rumsitzen, in denen ich nicht gesehen und gehört werde. Ich müsste keine Belege mehr fürs Finanzamt sortieren. Ich müsste nicht mehr solche unerfreulichen Telefonate mit dem Jobcenter führen wie das von heute Nachmittag. Ich würde ein tieferes Gespür dafür entwickeln, was mir wirklich Freude macht. Ich würde immer noch meine Blusen bügeln, denn ich bügele gern. Ich würde immer noch Schnee schippen, denn ich möchte, dass Menschen heil nach Hause kommen. Ich würde auch bei meiner alten Nachbarin fegen, denn sie unterstützt mich das ganze Jahr, indem sie meine Post annimmt. Ich würde nicht putzen, denn Putzen ist für mich ganz schrecklich. Vielleicht kann ich Bügeln gegen Putzen tauschen? Und trotzdem…. bei dem Gedanken, nie wieder einen festen Job zu finden, wird mir ganz beklommen. Ich muss doch mein Obdach bezahlen, mein Essen, Haarshampoo, Internet… Und der Preis dafür? Dinge tun, die mir keine Freude machen. Mehr arbeiten als mir gut tut. Faule Kompromisse eingehen… Da muss es doch noch etwas anderes geben!

Ich bin an Eurer Meinung zu dem Thema interessiert. Lebt Ihr, um zu arbeiten? Oder arbeitet Ihr, um zu leben? Welchen Stellenwert hat die Arbeit in Eurem Alltag, in Eurem Leben?

So long!

Ysabelle

6 Reaktionen zu “Frohes Schaffen… Mythos Arbeit”

  1. Ysabelle Wolfe

    SPIEGEL ONLINE
    29. Januar 2013, 07:40 Uhr
    Umfrage
    Deutsche klagen über mehr Stress im Job

    Termin- und Leistungsdruck, dauernde Unterbrechungen und Wochenendarbeit: Fast die Hälfte der Deutschen klagt einer Umfrage zufolge über wachsenden Stress am Arbeitsplatz. Jeder Vierte verzichtet sogar auf Pausen.

    Berlin – 43 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland sind überzeugt, dass die Belastungen im Job in den vergangenen zwei Jahren zugenommen haben. Das geht aus dem „Stressreport Deutschland 2012“ hervor, über den die „Bild“-Zeitung berichtet. Für die Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin seien bundesweit mehr als 17.000 Arbeitnehmer befragt worden – unter anderem zu psychischen Anforderungen, Belastungen und Stressfolgen ihres Arbeitsalltags.

    Demnach arbeitet jeder zweite Befragte unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Knapp 60 Prozent der Befragten gaben an, verschiedene Aufgaben gleichzeitig betreuen zu müssen. Fast jeder Zweite wird bei der Arbeit ständig unterbrochen – etwa durch Telefonate und E-Mails. Weil Ruhepausen nicht in den Arbeitsablauf passen oder sie nach eigenem Bekunden zu viel Arbeit haben, verzichtet jeder Vierte auf eine Pause. Insgesamt 64 Prozent arbeiten auch samstags, 38 Prozent an Sonn- und Feiertagen.

    Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) appellierte an die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen. Sie sagte der „Bild“-Zeitung: „Stress bei der Arbeit kann vorkommen, aber nicht dauerhaft. Und er darf auch nicht krank machen.“ Der Stressreport zeige, wo die Probleme besonders groß seien, aber auch, was man dagegen tun kann. Sie wolle „dem chronischen Stress den Kampf ansagen“ und erwarte, dass die Betriebe mitziehen.

    Die Studie bringt der Zeitung zufolge aber auch positive Aspekte zutage: So können sich mehr als 80 Prozent der Mitarbeiter in Deutschland auf gute Zusammenarbeit mit Kollegen verlassen. Man helfe sich gegenseitig im Job. Die überwiegende Mehrheit (96 Prozent) sieht sich nicht durch eine Entlassung bedroht. Drei Viertel fühlen sich den Anforderungen ihres Jobs gewachsen, sowohl fachlich als auch beim Umfang der Arbeit.

    cte/dpa

    URL:

    http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/stress-report-deutsche-klagen-ueber-mehr-stress-im-job-a-880187.html

  2. Carina

    „Du musst doch was ordentliches (er)lernen!“ – „wovon willst Du denn mal leben?“ – „als Frau kriegst du sowieso später mal die Kinder“ – „bist du den ganzen Tag zuhause?“ – „hast du immer noch keine Arbeit gefunden?“ – „was kannst du denn mit DEM Studium später mal anfangen?“
    Liebe Ysabelle,
    das sind die vorwurfsvollen Sätze, die mir in den Ohren schwingen, wenn ich an den Gegensatz Erwerbsarbeit – Freizeit denke. Ich wünsche mir, akzeptiert zu sein, wenn mir Arbeit Spaß machen soll und dadurch oft nicht „einträglich“ ist und ich brauche Vertrauen, dass ich auch wert-voll bin, wenn ich kein Geld „nachhause bringe“. Und das dennoch für mich gesorgt ist, dass ein Ausgleich / Transfer / finanzielle Unterstützung stattfinden wird und ich dazu berechtigt bin. Wenn sich das alles noch leicht anfühlen würde… wär’s perfekt.
    Herzliche Grüße, Marina

    P.S. Deine nährenden Beiträge haben mich auch letztes Jahr begleitet und besonders hilfreich hat sich die Überschrift „Tod durch Vergleichen“ mir eingeprägt. Danke für Deine Kontinuität und alles Beleuchten dessen, was im jetzigen Moment lebendig ist!

  3. Ysabelle Wolfe

    Sag mal, bist Du bei meinen Eltern aufgewachsen?

    Gruß,

    Ysabelle

  4. Cami

    Und was liest man dazu in Fachmagazinen?
    Am 8.2.2013 in den VDI Nachrichten zwei Artikel, die das Wasser gefrieren lassen:

    „Menschen müssen künftig schneller reagieren“
    Michael Schulte, Deutschland-Chef des Technologieberaters Capgemini, über den neuen Schub der Digitalisierung und dadurch ausgelöste Veränderungen am Arbeitsplatz
    http://www.vdi-nachrichten.com/artikel/Menschen-muessen-kuenftig-schneller-reagieren/62690/4

    „Digitalisierung revolutioniert die Arbeitswelt“
    30 Jahre nach der Eroberung der Geschäftsprozesse durch den Computer, 20 Jahre nach dem Einzug des Internets ins Alltagsleben und zehn Jahre nach Erfindung des internetfähigen Mobiltelefons wäre die Digitalisierung an sich ein alter Hut. Würden die Unternehmen nicht erst jetzt mit neuen Geschäftsmodellen durchstarten und damit auch die Arbeitswelt revolutionieren. Aber jede Revolution hat bekanntlich auch ihre Schattenseiten.
    Grusel-Zitat aus dem Artikel „Der Mensch, nicht die Technik, ist künftig das Nadelöhr.“
    http://www.vdi-nachrichten.com/artikel/Digitalisierung-revolutioniert-die-Arbeitswelt/62691/4

    Bleibt zu hoffen, dass die Menschen gute Wege finden, damit umzugehen und sich nicht zu sehr durch die Mühle drehen zu lassen.

  5. Ysabelle Wolfe

    Hallo, Cami,

    und dann gibt es noch eine irre Diskussion beim Spiegel:
    http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/politiker-und-forscher-fordern-30-stunden-woche-a-882537.html

    Es klingt ein wenig wie ein Aufruf aus den siebziger Jahren. Hundert Wissenschaftler, Gewerkschafter und Politiker fordern eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Die Begründung: Ein „Überangebot an den Arbeitsmärkten“ führe zu schrumpfenden Gehältern.

    Berlin – Niedrige Löhne, befristete Beschäftigungen, Fachkräftemangel – diese Probleme werden aktuell beim Thema Arbeitsmarkt diskutiert. Von kürzeren Arbeitszeiten war lange nicht mehr die Rede. Nun wagen mehr als hundert Forscher, Politiker und Gewerkschafter einen neuen Vorstoß – sie fordern eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. In einem Brief, der am Montag veröffentlicht werden soll, wenden sie sich laut „tageszeitung“ (taz) an die Vorstände ihrer Organisationen und Verbände. Unter den Unterzeichnern sind der Zeitung zufolge Katja Kipping und Sahra Wagenknecht von der Linkspartei sowie der Sozialphilosoph Oskar Negt.

    Ich bin nicht sicher, ob ich das feiern soll…

    Ich glaube, von der „richtigen“ Arbeit kriege ich nicht genug. Es ist mir leicht, 12 Stunden GfK zu machen, zum Beispiel als Assistenz. Aber hier neun Stunden im Büro zu sitzen, ohne Verbindung mit schwer erkennbarer Sinnhaftigkeit – das erlebe ich als sehr ermüdend.

    So long!
    Ysabelle

  6. Ysabelle Wolfe

    Wie hieß das doch gleich? Gesetz der Anziehung. Kaum fängt man an, sein Augenmerk auf das Thema „Welt der Arbeit“ zu richten, purzeln die Infos nur so über mich herein:

    Stress und Muße trafen bereits im vierten Jahrhundert vor Christus auf dem Marktplatz von Korinth aufeinander. Alexander der Große ist dabei, mit seinen Feldzügen aus dem kleinen Makedonien ein riesiges Reich zu schaffen. Er zerschlägt den Gordischen Knoten, zieht in den Krieg gegen die Perser und besiegt die bis dahin größte Territorialmacht der Erde. Alexander ist reich, mächtig, grausam, süchtig nach Erfolg und Alkohol und nicht ausschließlich dem anderen Geschlecht zugetan.

    Die Legende will, dass der Feldherr auf Diogenes von Sinope trifft, einen philosophierenden Bürgerschreck und erklärten Feind angehäufter Reichtümer. Für ihn erzeugt Besitz nur Bedürfnisse, die man andernfalls gar nicht hätte. Diese neuen, unnatürlichen Bedürfnisse müsse man ständig befriedigen. Das mache unfrei, und daher sei der Einfluss des Wohlstands auf die eigene Glückseligkeit völlig überschätzt.
    Diogenes zelebriert das einfache Leben in der Öffentlichkeit: Er besitzt nur ein Gewand, verrichtet seine Notdurft vor den Augen seiner Mitmenschen und wohnt in einer Tonne – womit er als prominentester Downshifter der Antike gelten darf.

    Alexander zeigt sich beeindruckt von Diogenes‘ Performance-Philosophie. Er bietet dem Tonnenbewohner an, was auch immer er haben will. Dieser antwortet: „Ich habe nur einen Wunsch: Geh mir aus der Sonne.“ Das, so die Legende weiter, beeindruckt den König so sehr, dass er sich wünscht zu sein wie der Bettelphilosoph. Andere Versionen besagen, Alexander habe die Welt besiegt, Diogenes aber habe Alexander besiegt.

    Dieses Zitat stammt natürlich mal wieder aus dem Spiegel.

    http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/ist-der-mensch-zum-arbeiten-gemacht-eine-philosophin-antwortet-a-882291.html

    Immer wieder lesenswert! Besonders begeistert mich die Definition von Bedürfnis… Ha!

    So long!
    Ysabelle

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