Werde ich bewertet…
Hallo, Welt!
Gestern kam es zu einem sehr speziellen Wiedersehen. 1996 hatte ich einen Mann kennen gelernt, der bei mir sämtliche Knöpfe gedrückt hat. Schon beim allerersten Kontakt dachte es in mir „den nehme ich!“. Wir waren nur drei Monate zusammen, aber der Impact dieser Verbindung beeinflusste mich noch bis zum Beginn meiner GfK-Karriere, als ich begann, nach meinen Gefühlen und Bedürfnissen zu schauen. Der Mann schien damals all meine Bedürfnisse nach Schutz, Geborgenheit, Verbindung, Ordnung, Wertschätzung, Spaß und Beitragen zu erfüllen. Ich konnte sehen – aber nicht merken – dass das Verhältnis zu seiner Noch-Ehefrau gar nicht geklärt war, und dass es noch eine weitere Frau in seinem Leben gab, die praktischerweise nur zur Hintertür hinaus wohnte. In meiner Erinnerung entglitt mir der Mann im Zeitlupentempo, wie ein großer Fisch, den man kaum in zwei Händen halten konnte. Nicht dass er so zappelte, er rutschte einfach weg. Bei zwei Gelegenheiten habe ich in wieder „über die Kante gezogen“, ihn mir also zurückgeholt. Als sich eine solche Situation zum dritten Mal wiederholte, habe ich die Entscheidung getroffen, nicht wieder hin zu fahren, zu reden, zu kämpfen. Denn an dem Tag, an dem er mir meinen Hausschlüssel zurückschickte, traf auch ein Buch bei mir ein. Louise Hay: Wahre Kraft kommt von innen. Das war am 9. Oktober 1996, und damit eigentlich der Beginn meines persönlichen Erwachens.
Gestern nun stand er vor meiner Haustür. Es war ein angekündigtes Wiedersehen. Wir hatten im vergangenen halben Jahr mehrmals telefoniert, denn er hatte die Absicht bekundet, in „meine“ Stadt zu ziehen. Ich kann heute noch erkennen, was mich damals so an ihm fasziniert hat, warum ich dieser Beziehung so lange nachgeblickt habe, warum sie in meinem Leben so eine Bedeutung hatte – ungeachtet der Kürze der Zeit, die wir in der Realität miteinander verbracht haben.
Er guckte durchs Haus, fand alle Um- und Ausbauten „toll“ und „super“. Als wir anschließend ein paar Meter gemeinsam gingen, sagte er mehrmals, „du bist eine tolle Frau“. Beim dritten Mal hätte ich ihn fast geschlagen. Leute, ich kann es nicht mehr ertragen, auf diese Weise bewertet zu werden!
Vor zehn Jahren wäre es mir vielleicht einfach peinlich gewesen. Ich kann doch nicht toll sein, wovon redet der? Heute werden andere Glocken bei mir angeschlagen. Ich muss mich geradezu dazu zwingen, die schönen Absichten im anderen wertzuschätzen. Denn in mir gibt es eben auch die Erfahrung, dass heute etwas „toll“ ist und morgen „Scheiße“. Mein früherer Chef war Experte darin. Dann flitzte er durch die Büroräume (zweimal jährlich, vermutlich nach einem Seminar), und rief den verdutzten Leuten zu: „Ihr seid eine tolle Mannschaft!“. Und drei Tage später fand er einen Fehler oder entdeckte etwas, was nicht seinen Vorstellungen entsprach (nicht, dass er die Vorstellungen vorher präzisiert hatte…), und dann waren wir alle nur unfähige Idioten, unter denen man mal aufräumen musste…
Sehr nett auch mein letzter Ehemann, der mir über viele Jahre sagte: „Ungeschminkt finde ich dich am schönsten“. Seine nächste Ehefrau war Kosmetikerin, ich dachte manchmal, die kann ihr Gesicht abends auch auf den Nachttisch legen, so künstlich wirkte sie auf mich…
Ich will nicht mehr bewertet werden, nicht mehr nach diesen Maßstäben. Offensichtlich bin ich mit dem Thema noch nicht durch, sonst würde mich ein nett gemeintes Kompliment nicht dermaßen in Wallung bringen. Gestern war die Zeit zu knapp, um den Mann zu fragen, ob er benennen kann, in welcher Weise ich gerade sein Leben bereichere. Seine Aussage, „das musst du jetzt gerade mal aushalten“, löste in mir nur noch mehr inneren Widerstand aus. Ich muss hier gar nichts aushalten! Leute… es klingelt bei mir… warum triggert mich das so?
Vertrauen.
Ich merke gerade, dass ich auf die Aussage überhaupt nicht vertraue. Unter meiner Wut und Empörung finde ich Trauer, Schmerz, Bitterkeit und Einsamkeit. Und meine unerfüllten Bedürfnisse sind neben Vertrauen „Gesehen werden“, Achtsamkeit, so etwas wie „Stille“, Verbindung und Schutz.
Na, es ist doch immer wieder spannend, bei sich selbst zu gucken, statt mit dem Finger auf den anderen zu zeigen…
So long!
Ysabelle