Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Heul doch!

Hallo, Welt!
Heute bin ich zum zweiten Mal innerhalb von fünf Tagen über ein „Heul doch!“ gestolpert. Samstag kam ich zurück von einer Veranstaltung, bei der sehr viele Kinder waren. Auf dem Heimweg überholte ich eine Familie, das Kind saß in der Sportkarre. Im Vorbeizischen hörte ich zunächst das Kind schluchzen, und dann stimmte die Mutter ein. Im ersten Moment dachte ich, „oh, sie verbindet sich empathisch mit dem weinenden Kind“. Doch dann schaltete sie um auf eine Art Singsang: Heulsuse… Heulsuse…

Schon an dieser Stelle drehte sich mir der Magen um.
Eben war ich noch mal schnell vier Liter Milch holen, bevor uns die Chinesen alles wegtrinken. Als ich den Einkaufswagen wieder ankettete, kam aus der Tür des Supermarktes erst eine Frau, dann ein Kind, dann ein weinendes Kind und dann ein Mann. Der Mann machte sich klein – ich weiß nicht, ob er sich bückte oder in die Knie ging oder sich einfach nur runterbeugte Richtung Kind 2 und sagte: Heul doch! Heul doch!

Wie geht es mir, wenn ich das höre?
Ich bin
entsetzt
traurig
im Schmerz
verzweifelt
bitter
einsam
frustriert

Und meine unerfüllten Bedürfnisse an dieser Stelle:
Respekt (für die Gefühle des Kindes)
Empathie (für das Kind und für mich)
Verbindung
Verstehen
Achtsamheit (DIE Keule überhaupt…)

Gar nicht so viel eigentlich.
Und schon geht es ab auf die Zeitreise. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine Mutter mich nachahmte (damals hieß das noch nachäffte) und dann „Heulsuse“ sagte. Ich bin ziemlich sicher, dass ich zu meinem Sohn nicht Heulsuse sagte, aber ich fand bestimmt was ähnliches Ätzendes, was meine Hilflosigkeit und Not zum Ausdruck brachte. Denn was sonst soll diese Aussage sein als der Hinweis auf ein dringendes unerfülltes Bedürfnis bei den Eltern, Betreuern oder Bezugspersonen…?

Also: Was fühlt jemand, der zu einem kleinen Kind „Heul doch!“ sagt?
Ich rate mal:
Hilflos
ohnmächtig
frustriert
enttäuscht
müde
angespannt
kalt
kribbelig
streitlustig
unbehaglich
wütend
erschöpft.

Und als unerfüllte Bedürfnisse tippe ich auf:
Verbindung
Wirksamkeit
Selbstvertrauen
Verstehen
Entspannung
Leichtigkeit
je nach Situation vielleicht Respekt oder Anerkennung
und so was wie Ruhe.

Ach Leute! Ich bin so frustriert, wie wenig verbunden wir alle mit uns selbst, mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen sind. Statt zu sagen, was wir fühlen und brauchen, perlen solche Kommentare aus unseren Mündern. In diesem Fall signalisieren sie unseren Kindern: Deine Gefühle und Bedürfnisse spielen gerade mal keine Rolle für mich…

Die ganzen Jahre habe ich gesagt, GfK mit Eltern und Kindern ist nicht mein Thema. Ich merke, wie diese Überzeugung ins Wanken kommt. Es wird so dringend gebraucht! Was sagt Marshall?

If something is worth doing it’s worth doing poorly

Damit ist nicht gemeint, es reicht, wenn ich es „schlecht“ tue. Vielmehr geht es darum, dass aller Anfang schwer ist, und ich mich nicht dahinter verstecken soll, dass ich etwas nicht kann. Ohne Üben klappt es nicht mit dem Klavierspielen. Und wie kann ich üben, wenn ich es nicht *t*u*e*? Und dabei eben auch riskiere, es ärmlich zu tun, also meinen eigenen Ansprüchen nicht zu genügen… Übrigens: Zwei Häuser weiter gibt es zwei Kinder, die an manchen Tagen 80 Prozent der Zeit schreien. Hat jemand eine Idee, wie ich die Eltern ansprechen kann? Mein letzter Versuch, in so einer Situation zu intervenieren, endete voriges Jahr auf dem Weihnachtsmarkt ziemlich kläglich. Mir ist schon klar, dass als erstes die Eltern Empathie brauchen… Vielleicht heule ich erst mal ne Runde…

So long!

Ysabelle

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