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Hallo, Welt!
Heute ist Feiertag. Im Kalender steht: Tag der deutschen Einheit. Die vergangenen drei Wochen habe ich mit arbeitslosen Jugendlichen verbracht. Nicht mal in dieser kleinen Gruppe gibt es so etwas wie „Einheit“ im Sinne von Eintracht. Ich versuche so viel GFK wie möglich in sie zu trichtern. Es ist erstaunlich, wie schnell sie das Konzept verstehen. Aber anwenden…?
Vor zehn Tagen hat jeder von ihnen eine laminierte „Spielkarte“ mit dem Wort „Respekt“ bekommen. Eigentlich soll sie dazu dienen, dass der einzelne nonverbal aufzeigen kann, was er gerade braucht. Einer der Teilnehmer hat fünf vor sich liegen und wenn er genervt ist oder sich wehren will, hält er alle fünf hoch. Ein anderer Teilnehmer nimmt die Karten und flitscht damit, als wären es Steine an einem See. Ein weiterer Teilnehmer, dessen Pupillen oft so klein sind wie Stecknadeln, und der sich ständig kratzt, verblüfft mich mit dem Zuruf von Bedürfnissen: „In Einklang sein“ oder „Intimität“. Er weiß auch, dass Goa nicht nur der Name einer Party ist, sondern auch eine Region in Indien. Er weist darauf hin, dass Konkurrenz doch mit „k“ geschrieben wird und nicht wie „Kongruenz“, und schwups, sind wir mitten drin in einer Diskussion über das, was jemand sagt und das, was er tut…
Ich hatte gehofft, mit den Jugendlichen die Fragebögen durchzugehen, die ich für den Vortrag über Vorurteile erarbeitet hatte. Keine Chance. Aber wir sprechen über Schubladen. „So“ sind Waldorf-Schüler, und „so“ sind Hauptschüler. Und ein Teilnehmer, erst 16 Jahre alt und bereits Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten wohl bekannt, sagt: „Meine Schubladen lasse ich mir nicht nehmen, die sind zu meinem Schutz!“ Wenn das mal nicht eine sensationelle Anwendung des Gedankens von Bedürfnissen und Strategien ist…
Ich bin so sicher, dass diese jungen Menschen GFK brauchen. Genau wie Liebe und Vertrauen. Sie brauchen auch Regeln/Struktur und Transparenz. Gestern haben wir 50 Minuten darüber diskutiert, wie in der kommenden Woche die Arbeitszeiten gelegt werden sollen. Auf mittlere Sicht müssen die Teilnehmer 30 Wochenstunden absolvieren. Zwei plädierten für 8.00 Uhr, zwei für 8.15 Uhr, zwei für 8,30 Uhr und drei für 9.00 Uhr wie gehabt. Und nun? Kurz dachte ich ans systemische Konsensieren, aber ich habe noch nicht genug von dem Konzept verstanden, um es in die Klasse zu bringen. Dann dachte ich, ich halte das einfach mal aus, was da gerade passiert oder auch nicht passiert. Und siehe da: Jetzt gibt es drei Tage, an denen wir früh anfangen (mal sehen, ob die Teilnehmer auch früh kommen) und zwei Tage, an denen wir spät anfangen, zum Beispiel Montag. Dafür ist der Freitag kurz. Da alle (Anwesenden) an dieser Entscheidung beteiligt waren, hoffe ich auf Tragfähigkeit.
Ich genieße die Zusammenarbeit mit einer Kollegin. Sie ist Erzieherin und hat vorher eine Wohngruppe geleitet. Wunderbar, wie sie mit den jungen Menschen umgeht, Grenzen aufzeigt. Wir haben gegenseitig sehr viel Wertschätzung und Respekt füreinander und ich genieße die Art, wie sie sich einbringt. Von ihr kann ich lernen, was ich als Mutter nicht wusste. Zu keinem Zeitpunkt ist ihre Integrität in Gefahr, die Jugendlichen können ihren Kern nicht erschüttern. Eine andere Kollegin sagt ganz offen, dass sie sich nicht traut, in dieser Klasse frontal zu unterrichten… Alle Anwürfe und „Nein“, alle Ablenkungen und Papierflieger, Rausgehen, Privatunterhaltungen ziehen Kapital von ihrem Selbstwertkonto ab. Ich kann es sehen, ich spüre Mitgefühl und gleichzeitig eine innere Dankbarkeit, die mich in Tränen bringt. So ging es mir auch einmal, so war ich auch unterwegs… bis ich die GFK kennen lernte…
So long!
Ysabelle