Sucht und GFK
Hallo, Welt!
Über den TrainerInnen-Rundbrief des CNVC wurde ich auf einen Artikel aufmerksam, der mich geradezu elektrisiert hat. Darin beschreibt der Autor Johann Hari die wahren Ursachen von Sucht. Eines der Beispiele, die Hari auseinander nimmt, sind die Forschungen von Prof. Alexander. Seit einigen Jahrzehnten gibt es ein klassisches Experiment mit Ratten. Sie werden allein in einen Käfig gesetzt und haben wahlweise Wasser oder heroin versetztes Wasser zum Trinken. Die einsamen Ratten besaufen sich am Heroin versetzten Wasser. Das galt als Indiz dafür, dass Heroin süchtig macht. Alexander hat nun an Ratten nachgewiesen, dass selbst welche, die wochenlang nur Heroinwasser zu sich genommen hatten, normales Wasser bevorzugten, wenn sie wieder in rättischer Gesellschaft waren. Sobald also ihre Einsamkeit aufhörte und sie mit anderen Ratten zusammen ein rattengemäßes Leben führen konnten, interessierte sie die Droge nicht mehr.
Hari führt noch diverse andere Beispiele an: US-Soldaten, die massenweise im Vietnam-Krieg Drogen konsumiert haben, aber nicht 100 Prozent von ihnen haben damit in der Heimat weiter gemacht, sondern nur rund 17 Prozent. Patienten, die wegen starker Schmerzen aus medizinischen Gründen Opiate bekamen, die dann später abgesetzt wurden, endeten nicht als Junkies in der Gosse, sondern lebten ganz normal ohne Drogen weiter…
Was also macht uns anfällig für Drogen? Und ich meine hier nicht (nur) Heroin oder Kokain, sondern genau so Alkohol, Spielen, Sexsucht, Süßigkeiten oder allgemein Fresssucht. Im Artikel heißt es dazu:
The street-addict is like the rats in the first cage, isolated, alone, with only one source of solace to turn to. The medical patient is like the rats in the second cage. She is going home to a life where she is surrounded by the people she loves. The drug is the same, but the environment is different.
This gives us an insight that goes much deeper than the need to understand addicts. Professor Peter Cohen argues that human beings have a deep need to bond and form connections. It’s how we get our satisfaction. If we can’t connect with each other, we will connect with anything we can find — the whirr of a roulette wheel or the prick of a syringe. He says we should stop talking about ‚addiction‘ altogether, and instead call it ‚bonding.‘ A heroin addict has bonded with heroin because she couldn’t bond as fully with anything else.
Wir bonden also mit der Droge, weil wir nicht (so) vollkommen mit anderen Menschen bonden können.
Ich bin nicht sicher, ob jedem von Euch der Begriff Bonding so zugänglich ist. Die Bonding Psychotherapie wurde von Dan Casriel begründet und soll dazu dienen, alte hinderliche Glaubenssätze und/oder Gefühle zu transformieren. Hort der Bonding-Psychotherapie in Deutschland sind die 12-Schritte-Kliniken Bad Herrenalb, Bad Grönenbach, Hochgrat-Klinik Stiefenhofen (Wolfsried) und Adula-Klinik Oberstdorf. In den Bonding-Gruppen findet also Bindung, Verbindung statt. Mein Gegenüber im Bonding-Prozess hält mich aus, bleibt mit seiner Präsenz bei mir, während ich eventuell mit lautem Schreien o.ä. verschüttete Themen bearbeite. So gesehen ein sehr GFK-kompatibles Konzept. (Unter Umständen nicht für Trauma-Patienten geeignet).
Also: Johann Hari stellt die These auf, dass wir mit der Droge bonden, eine Verbindung eingehen, weil uns die echte Bindung zu unseren Artgenossen fehlt. Schade, dass es unter Menschen nicht so leicht ist, in Gemeinschaft zu leben, wie es für Ratten zu sein scheint. Viele von uns bringen ein Päckchen (aus der Herkunftsfamilie oder traumatischen Erlebnissen) mit, die es uns so schwer machen, in Verbindung zu kommen. Und unsere urteilende Welt, die Unfähigkeit vieler Menschen, einfach nur zuzuhören oder wiederzugeben, was sie gehört haben, erschwert das noch zusätzlich. Wenn wir selber (dank 22000 Stunden elterlicher Erziehung) gnadenlose Richter als Introjekte haben, dann erwarten wir natürlich (unbewusst) auch von außen Kritik und Tadel. Wer fühlt sich da noch ermutigt, jemand anderes anzurufen und zu sagen, du, ich hänge durch. Hast du eine halbe Stunde Zeit für mich? A.) Ohne GFK merken wir vielleicht gar nicht, wie es uns geht, weil wir uns unserer Gefühle überhaupt nicht bewusst sind. Und B.) liegt die Tafel Schokolade näher als der Telefonhörer. Und ich laufe nicht Gefahr, mir eine Abfuhr abzuholen.
Vor ein paar Jahren hörte ich in einem therapeutischen Umfeld eine Geschichte, die mich bis heute tief berührt. Eine Frau berichtete aus ihrer Kindheit. Sie war vielleicht zwei oder drei Jahre alt und ihre Mutter stand am Bügelbrett. Das Kind krabbelte hin zur Mutter und begann ihr Bein zu streicheln. Die Mutter machte eine abschüttelnde Bewegung mit dem Bein und sagte dann mit scharfer Stimme, „lass das, ich bin doch keine Katze!“.
Ich glaube, das Kind hatte ein Bedürfnis nach Nähe, oder nach Verbindung, oder Gesehen werden, oder Beteiligung. Ich will nicht abstreiten, dass die Mutter ebenfalls wunderbare Bedürfnisse hatte, die sie dazu bewegten, sich so zu verhalten, wie sie es tat. Aber wenn wir als sehr junge Menschen oder eben auch in der Partnerschaft solche Erlebnisse haben, ist es doch kein Wunder, wenn wir uns anderen Menschen nicht „zumuten“. Es ist doch kein Wunder, wenn wir den Kühlschrank plündern, statt in die Arme unseres Nächsten zu sinken.
Die Geschichte fiel mir gestern Abend wieder ein, als ich sanft den Arm meiner Mutter streichelte. Fast erwartete ich, dass sie meine Hand weg schubste. „Olle Klette“ sagte sie in der Kindheit zu mir und das war durchaus nicht freundlich gemeint.
Und jetzt der Salto in die GFK.
Wenn ich in dem Bewusstsein lebe, dass mindestens einer von sechs Milliarden Erdlingen mit Freude meine Bitte erfüllt, dann kann ich vielleicht die Schokolade liegen lassen und mich statt dessen auf die Suche nach diesem einen machen. Einen Hinweis finde ich vielleicht in meinem Telefonbuch, der Facebook-Freundesliste oder unter den Weihnachtskarten, die irgendwo noch in der Küche liegen. Freitag vor einer Woche war es Michael aus UK, der mir seine Präsenz schenkte. heute habe ich das gleiche bei meiner Schweizer Trainer-Kollegin Sylvie genossen. Es braucht also zum einen die Gewissheit, dass ich willkommen bin. Und zum zweiten braucht es die Erkenntnis, was ich gerade brauche. Und drittens braucht es „Beine“, um auf den- oder diejenige zuzugehen, der oder die mir dieses Bedürfnis vielleicht erfüllen könnte. Und dafür ist es hilfreich, eine klare Bitte zu formulieren. Kannst du mir zehn Minuten ungebremst zuhören? Kannst du mich ein paar Minuten halten? Kann ich mal für eine halbe Stunde in deinem Arm liegen? Wäre es dir möglich, mir kurz die Schultern zu massieren? Ich trage gerade das Gewicht der Welt…
So kann’s gehen, wenn wir mithilfe der GFK uns selbst besser kennen, Bitten formulieren und ein Nein hören können, ohne dass Selbstzweifel an unserer Liebenswürdigkeit getriggert werden. Es ist lohnenswert, sich auf die Gewaltfreie Kommunikation einzulassen…
So long!
Ysabelle
Hallo, Welt!
In die gleiche Kerbe haut ein Artikel im Guardian: Ebenfalls sehr zu empfehlen. Danach sieht uns der Autor nach Steinzeit, Eisenzeit, Bronzezeit u.s.w. jetzt im Zeitalter der Einsamkeit.
So long!
Ysabelle
Ja ja ja, dein Beitrag hat mich so berührt.
Auch mir fehlt das Grundvertrauen, dass mir gegeben wird, was ich brauche.
wie traurig, dass diese Basis so schwer wieder zu erlangen ist. Das Fundament trägt von unten und nicht zwischendrin oder obenauf.
Dorothee
Zur Bonding-Psychotherapie: Das ist aus meiner Sicht überhaupt nicht GfK-Kompatibel, da es das Bedürfnis hinter der körperlichen Distanz nicht anerkennt -> Sicherheit, Respekt, der eigene Raum. Für mich gehört es zu einen der Brachialmethoden in der Psychotherapie, die mit der „richtigen Methode“ seinen Erfolg erzielen will, anstatt dass man sich dem verbindet, was lebendig ist.
Sucht ist ein extrem komplexes Thema, leider eines, welches auch oft zu Grenzüberschreitungen einlädt.
Ein empfehlenswerter Artikel dazu: http://www.richelshagen-systemische-beratung.de/pdf/Sucht.pdf
Hallo, Adrian,
ich habe Bonding im Rahmen einer therapeutischen Gruppe in Hamburg kennen gelernt. Die Fachfrau, die das angeleitet hat, hat nach meiner Wahrnehmung sehr fein abgestimmt, wie viel körperliche Nähe oder Distanz der oder die einzelne annehmen konnte. Das war kein stumpfes Mattenbonding, sondern manchmal haben sich die Teilnehmer einfach gegenüber gesessen oder sich im Arm gehalten, ganz wie es der einzelne als angenehm empfand. Die Freiwilligkeit habe ich da wahrgenommen, dass ich mir aussuche, ob ich daran teilnehme, und dass ich mit meinem Partner/meiner Partnerin ein Abbruch-Signal vereinbare, also nicht die Verantwortung abgebe.
Den Artikel, auf den Du verweist, finde ich sehr aufschlussreich. Gleichzeitig decken sich einige der beschriebenen Muster nicht mit dem, was ich in meinem Dunstkreis erlebe. Ich bin fünf Jahre zu CoDA gegangen und habe es nicht einmal erlebt, dass seitens der Gruppe Druck ausgeübt wurde, wenn Leute nicht mehr kamen. Das gleiche erlebe ich bei einer weiteren Gruppe nach dem Muster der AA, in die ich seit zehn Jahren gehe. Die Teilnahme ist freiwillig, und wenn Teilnehmern ein schlechtes Gewissen/Angst gemacht wird (du wirst rückfällig, wenn du nicht mehr am Programm arbeitest), dann sagt das mehr über die Leute, die so reden als über die Leute, die nicht mehr wieder kommen…
In meinem Erleben tut mir der Austausch mit Betroffenen gut und führt nicht dazu, dass ich die Verantwortung für mich an die Gruppe abgebe. Um meinem suchtkranken Familienmitglied gegenüber einen guten Kurs zu finden, eben nicht die Verantwortung für ihn, sondern für MICH zu übernehmen, nutzt mir die Begegnung mit anderen Menschen in vergleichbarer Situation. Was mir schon seit Jahren schwer fällt, ist der Umgang mit „Fehlern“ innerhalb des AA-Programms. Das halte ich für schädlich, weil es Schuld und Scham induziert. Dabei geht es in meinen Augen um Verantwortung und Wachstum. Aber das Programm ist ja auch vor über 80 Jahren entstanden, da wusste man halt noch nicht so viel über die menschliche Seele wie heute.
Danke für diese interessanten Impulse, Adrian!
So long,
Ysabelle