Wir sind was wir denken
Hallo, Welt!
Nachdem ich annähernd 30 Jahre als Bahnfahrende unterwegs war, fahre ich nun seit einem Dreivierteljahr mit dem Auto über Landstraßen zur Arbeit. Je nach dem, wie ich gerade drauf bin, reagiere ich auf andere Verkehrsteilnehmer. Wer von hinten kommt und mich überholt, ist meist ein Spinner. „Ich fahr doch schon (fast) 100, was willst du denn noch?“ Alle Treckerfahrer sollten sowieso eine eigene Spur haben. Morgens, wenn ich selbst pünktlich bei der Arbeit sein will, stören mich Trecker mehr als nachmittags, wenn ich nach Hause dümpel.
Vorige Woche nun war ich bestrebt, besonders früh bei der Arbeit zu sein, denn meine Kollegin hatte Urlaub und ich wollte noch etwas vorbereiten. Vor mir fuhr ein Wagen, dessen Fahrer/Fahrerin sich exakt an die vorgeschriebenen Geschwindigkeitsregeln hielt. Strich 50 in der Ortschaft, 70 auf dem Teilstück bis zur Umgehung, wieder runter auf 50… Ich hing dahinter und hörte mich vehement fluchen. Gehts noch ein bisschen langsamer? Soll ich rauskommen und schieben? Alter, darfst du überhaupt noch/schon fahren?
Das war eine spannende Erfahrung. Ich würde mich selbst als sehr verkehrsregeltreu bezeichnen. In meinen 35 Jahren Führerscheinbesitz bin ich ein einziges Mal geblitzt worden – beim Abbiegen in eine 30-er-Straße in Hamburg, wo ich wegen des nachfolgenden Verkehrs zusehen musste die Kreuzung zu räumen. 15 Euro. Ich glaube, meine erste rote Ampel habe ich 2010 überfahren… Und nun hielt sich jemand an die Regeln und ich brodelte hinter dem Steuer wie ein HB-Männchen/Frauchen.
Als erstes ging mir auf, dass vermutlich tausendfach andere Fahrer hinter mir so gebrodelt haben. Geht’s nicht ein bisschen schneller? Es ist doch alles frei… Das entlockte mir schon mal ein kleines Grinsen. Guck an, jetzt geht es dir mal so wie es den anderen vielleicht hinter dir ergeht…
Im nächsten Schritt konnte ich direkt körperlich wahrnehmen, wie sich abhängig von meinen Gedanken meine Laune/meine Körperspannung veränderte. Dachte ich, der Vorausfahrende wäre ein Idiot und würde etwas falsch machen, erhöhte sich mein Blutdruck, die Kiefermuskeln und der Nacken waren angespannt, die Hände pressten sich ans Lenkrad. Als ich mir bewusst machte, dass das lediglich meine Gedanken waren, die mich so aggressiv werden ließen, spürte ich die Ent-Spannung in allen Knochen. Ich konnte auf einmal wählen. Wut oder Gelassenheit. Das war ein faszinierendes Erlebnis.
Ich habe schon häufiger festgestellt, dass meine Gedanken meine Stimmung beeinflussen. Am drastischsten – ACHTUNG, KÖNNTE UNERWÜNSCHTE ASSOZIATIONEN AUSLÖSEN – erlebe ich das in Bezug auf Erbrochenes. Meinem eigenen Kind konnte ich nicht helfen, wenn ihm schlecht war. Und im Auto war ihm ständig schlecht. Prompt setzte bei mir der Brechreiz ein. Das setzte sich in den vergangenen Jahren fort, wenn die Katzen sich irgendwo übergeben hatten. Auch beim 100. Mal (ich habe schon seit 27 Jahren Katzen) wurde es nicht besser. Und irgendwann habe ich gemerkt, wenn ich das beseitige, denkt es etwas in mir, und das Denken löst meinen Brechreiz aus.
Ich hatte einmal ein Gespräch mit meiner Mutter, die ja ein Tracheostoma hatte, also eine Kanüle im Hals. Sie schleimte ständig und tat das auch geräuschvoll neben mir im Auto auf der Heimfahrt vom Krankenhaus. Ich merkte schon, wie mir übel wurde und ich bat sie, einen etwas dezenteren Weg zu finden. Einen Augenblick war Stille, dann sagte sie: „Tut mir Leid, ich habe es ein bisschen übertrieben. Ich wollte einfach, dass es sichtbar/hörbar wird, was das für eine schreckliche Krankheit ist und wie beschissen es mir geht…“
Ich glaube, das war der Wendepunkt. Ich konnte mich vollkommen mit ihr verbinden. Ich konnte bei ihr sein in ihrem rotzenden Elend. Und das ist mir bis zu ihrem Ende immer häufiger gelungen. Ich konnte auf einmal meinen Brechreiz im Kopf abschalten, indem ich bewusst an etwas anderes dachte. Oder mit dem Brechreiz „redete“. Ganz ruhig. Stell dir vor, es wäre etwas anderes… es ist nur das, was du denkst, was diesen Würgereiz auslöst… denk einfach an was anderes oder an nichts…
Für mich ist das ein großes Geschenk: Zu erkennen, dass meine Gedanken meine Existenz beeinflussen, und dass ich daher meine Gedanken verändern kann, um Frieden zu haben. Wie bei dem Autobeispiel muss ich vielleicht erst fühlen und wolfen, um dafür den Schalter zu finden. Ich muss zu Bewusst-Sein kommen. Solange ich hinter dem Lenkrad dumpf vor mich hin wüte, verankere ich mich in der Welt von Richtig oder Falsch. Beim Erkennen meiner Gefühle und Bedürfnisse zeigt sich auf einmal die Tür aus diesem Knast…
So long!
Ysabelle