Das Geschenk der Fantasie
„Es heißt die Menschen kriegen nur Angst, weil sie zu viel Fantasie haben. Also versuch doch einfach dir nichts vorzustellen, dann kannst du ganz bestimmt tapfer sein.“
Aus dem südkoreanischen Spielfilm Oldboy von 2003
„Du hast eine blühende Fantasie“, sagt die Mutter zum Kind, und häufig ist diese Aussage nicht liebevoll gemeint. Psychiater haben einen anderen Begriff dafür: Projektion. Heute soll es um Gedanken gehen, die uns beschäftigen, Angst machen, frustrieren oder beflügeln, die aber keinen realistischen Hintergrund haben.
… Ich mag nicht mehr weiter arbeiten. Die Kollegen werden froh sein, wenn sie mich los sind! … Ich habe Angst, dass er eines Tages vor meiner Tür steht und mir etwas antut! … Mein Job ist in Gefahr, vielleicht kommt die Kündigung schon diesen Monat… Ich weiß, er liebt mich. Und wenn er könnte, stünde er eher heute als morgen vor meiner Tür… Ich bin der einzige Mensch, der ihr helfen kann…
Wer von uns kennt nicht solche Sätze? Vielleicht kreisen sie zwischen unseren eigenen Ohren, vielleicht haben wir sie gerade erst von jemand anderem gehört. Häufig ist es so, dass die Annahmen und Befürchtungen mit der Realität nicht viel zu tun haben, uns aber trotzdem berühren, beunruhigen, besänftigen.
Zwei Fragen können uns helfen, uns mit der Realität zu verbinden. Die erste Frage lautet: Was ist die objektive Beobachtung dazu? Haben die Kollegen gesagt, mit dir wollen wir nicht mehr zusammen arbeiten? Hat sich der frühere Partner schon einmal gewalttätig gezeigt? Sind unmittelbare Kollegen gerade von Kündigung betroffen oder gibt es ein konkretes Ereignis wie Insolvenz oder Betriebsschließung, das auf eine Kündigung hinweist? Gab es in der Vergangenheit Situationen, in denen der geliebte Mensch über seinen Schatten gesprungen ist und wirklich vor der Tür stand? Gibt es wirklich niemanden, der dem anderen Menschen, für den ich mich gerade verantwortlich fühle, helfen kann? Oder definiere ich „Hilfe“ so, dass nur ich diese Aufgabe übernehmen kann?
Die zweite Frage lautet: Welches Bedürfnis erkenne ich in diesen Überlegungen?
Bin ich ängstlich, ob ich im Team noch willkommen bin und brauche Schutz? Ist mir meine Autonomie kostbar und die Aufmerksamkeiten meines Ex-Partners machen mir Angst? Ist im Beruf mein Bedürfnis nach Sicherheit unerfüllt? Möchte ich in der Partnerschaft darauf vertrauen, dass der andere unsere Verbindung genau so wichtig nimmt wie ich? Oder brauche ich die Sicherheit, dass sich mein Gegenüber um seine eigenen Belange kümmert?
Unsere Fantasien und Projektionen können ein kostbares Geschenk sein. Wenn wir bereit sind, ihnen zuzuhören, erfahren wir mehr über unsere geheimen Hoffnungen und Wünsche. Und dann werden wir in der Lage sein, uns für ihre Erfüllung einzusetzen.
Heute will ich meinen Hoffnungen und Befürchtungen zuhören, um zu erfahren, was ich brauche.