Abschied vom Perfektionismus
Aus dem Versuch, perfekt zu sein, erwächst viel Schmerz. Perfektion ist unerreichbar, wenn wir sie nicht unter einem neuen Aspekt sehen: Perfekt zu sein, so zu sein, wie wir heute sind, und dort zu stehen, wo wir heute stehen; uns so zu akzeptieren und zu lieben wie wir sind. Wir sind genau an der richtigen Stelle, dort, wo wir in unserem Heilungsprozess sein müssen.
Melody Beattie, Kraft zum Loslassen
Der Blick in den Spiegel zeigt bei den meisten von uns: Perfekt ist etwas anderes. Ein Pickel auf der Wange, die Frisur könnte eine Überarbeitung vertragen. Cellulite an den Oberschenkeln, ein freundlicher Waschbärbauch. So geht die Prüfung weiter: Das Gespräch mit dem Kunden lief unglücklich, der Schreibtisch sieht aus, als hätte jemand eine Altpapiertonne darauf entleert. Die Blumen vertrocknet, das selbst gekochte Essen fad und unspektakulär. Ist es nicht faszinierend, wie viele Anlässe wir an nur einem einzigen Tag finden können, um uns niederzumachen?
„Wenn du dein Leben wirklich elend machen willst, vergleiche dich mit anderen“, schlägt Marshall Rosenberg im Scherz vor. Heidi Klum, Mutter von vier Kindern, hatte bereits wenige Wochen nach der letzten Niederkunft ihre Traumfigur zurück. Mozart schrieb schon im Alter von acht Jahren wunderbare Kompositionen und sprach mehrere Sprachen fließend. Und du schaffst es nicht mal, Bratkartoffeln vernünftig zu würzen…
Leider haben wir häufig an uns selbst Anforderungen, die ein normaler Mensch gar nicht erfüllen kann. Angefeuert werden wir dazu von einem inneren Antreiber, der von uns fordert: Sei perfekt! Zumeist haben wir diesen Antreiber bereits in unserer Kindheit kennen gelernt, als wir eine Botschaft vernommen haben, die da lautet:
du bist nur dann ok, wenn du alles richtig machst.
Wer von diesem Antreiber befeuert wird, will immer alles sehr gründlich machen. Auch an andere stellt er in der Regel hohe Anforderungen. Aufgaben werden oft übererfüllt, Perfektion steht ohne Rücksicht auf Kosten oder Zeitaufwand an erster Stelle. Anerkennung gibt es nur für absolut fehlerfreie Leistung. Und: Wenn eine Leistung nicht perfekt ist, fühlen sich die Verursacher oft unter Rechtfertigungszwang.
Wenn wir uns an solchen überdimensionalen Maßstäben messen, kann es leicht passieren, dass wir uns selbst immer wieder für unzureichend halten oder uns weit über unsere Kräfte zu Leistungen zwingen.
Doch wie können wir diesem inneren Antreiber den Stellenwert einräumen, der ihm zusteht, uns aber nicht von Perfektionismus terrorisieren lassen?
Zum Glück gibt es einen Persönlichkeitsanteil, der hier eine andere Komponente unseres Seins vertritt: Unseren Erlauber. Er steht für die Botschaften:
So wie du bist, bist du gut genug
Du darfst Fehler machen
Du darfst mit anderen nachsichtig sein, wenn sie Fehler machen
Du brauchst dich nicht ständig zu rechtfertigen
Zusammen mit einigen anderen Werkzeugen können uns diese neuen Glaubenssätze im Laufe der Zeit zu einer neuen Sicht auf die Welt verhelfen. Wir müssen sicht perfekt sein. Wir sind liebenswert, auch wenn wir Fehler machen!
Heute will ich aufmerksam beobachten, ob mein Perfektionismus sich zu Wort meldet. Ich werde mir vergegenwärtigen, dass er mein Bestes im Sinn hat und mir dann ins Gedächtnis rufen, dass ich auch liebenswert bin, wenn ich Fehler mache.