Die Auster
Eine traurige Geschichte
Ein Hering liebt‘ eine Auster
Im kühlen Meeresgrund;
Es war sein Dichten und sein Trachten
Ein Kuss von ihrem Mund.
Die Auster, die war spröde,
Sie blieb in ihrem Haus;
Ob der Hering sang und seufzte,
Sie schaute nicht heraus.
Nur eines Tags erschloss sie
Ihr duftig Schalenpaar;
Sie wollt im Meeresspiegel
Beschauen ihr Antlitz klar.
Schnell kam der Hering geschwommen,
Streckt seinen Kopf herein
Und dacht an einem Kusse
In Ehren sich zu freun!
O Harung, armer Harung,
Wie schwer bist du blamiert!
– Sie schloss in Wut die Schalen,
Da war er guillotiniert.
Jetzt schwamm sein toter Leichnam
Wehmütig im grünen Meer
Und dacht: „In meinem Leben
Lieb ich keine Auster mehr!“
Joseph Viktor von Scheffel (1826-1886)
Wohl jeder von uns kennt Situationen, in denen es ihm so ging wie dem Hering. Da haben wir uns genähert und zack! war der Kopf ab. Ich vermute aber auch, wir alle tragen auch ein Stück weit die Auster in uns. Die dicke, mit Perlmutt ausgekleidete Schale schützt ein empfindsames Wesen. Die Schale haben wir uns angeeignet, weil sie die beste Strategie erschien um unser verletzliches Inneres in Sicherheit zu bringen.
Dieser Schutzpanzer stammt aus der Zeit der emotionalen Sklaverei. In dieser Epoche glaubten wir, wir seien für das Wohl und Wehe anderer Menschen verantwortlich, und andere Menschen könnten uns mit dem, was sie sagen, verletzten.
In der Gewaltfreien Kommunikation lernen wir, dass uns nur unsere eigenen Gedanken verletzen können. Und wir lernen, dass das Nein unseres Gegenübers das Ja zu etwas anderem ist. Wir lernen, dass es so etwas wie Zurückweisung, Verarsche, angegriffen oder beleidigt werden nicht gibt. Wir lernen, Sorge zu tragen für unsere emotionale Sicherheit und wir lernen, uns für die Erfüllung unserer Bedürfnisse einzusetzen. Und je besser uns das gelingt, desto weniger brauchen wir unsere Austernschalen.
Heute will ich beobachten, wann meine Austernschalen zuklappen wollen. Ich werde dem nachspüren, was meinen Sicherheitsmechanismus aktiviert hat und herausfinden, welche Bedürfnisse dabei unerfüllt sind.